Ende der Welt oder doch lieber Ende des Kapitalismus?

Kurt Seifert, 23. Juli 2019
7/8.19

In unserer Zeit scheint nur noch die Wahl zwischen einem an­geblich weltoffenen Neoliberalismus und dumpfem Populismus möglich zu sein. Doch jetzt kommen neue Perspektiven in den Blick.

Im Januar 1964 veröffentlichte der damals noch blutjunge US-amerikanische Songwriter Bob Dylan ein Studioalbum unter dem Titel The Times They Are a-Changin’. Dieses Album begründete seinen Ruhm als Stimme der weltweiten Jugendbewegung der sechziger Jahre. Im Lied, das der Platte ihren Namen gab, heisst es unter anderem: «Your sons and your daughters are beyond your command/Your old road is rapidly aging/Please get out of the new one if you can’t lend your hand/For the times, they are a-changin’.» Die etwas holprige Übersetzung aus dem Netz lautet: «Eure Söhne und Töchter sind jenseits eurer Kontrolle. Eure alte Strasse altert rapide. Bitte geht runter von der neuen, wenn ihr nicht zur Hand gehen könnt, denn die Zeiten ändern sich.»

Das war das Gefühl jener Epoche, die in einem «1968» mündete, dessen fünfzigjähriges Jubiläum erst kürzlich gefeiert worden ist. Die Schlachten, von denen Dylan in einer anderen Strophe singt und die in den damaligen Debatten sowie gelegentlich auch auf den Barrikaden geschlagen wurden, eröffneten eine ganz neue Welt. Die war dann aber doch ziemlich anders, als viele der daran Beteiligten einmal gehofft hatten. Gewiss: Die Gesellschaften des Westens wandelten sich. Doch was dabei heraus kam, war ein modernisierter Kapitalismus. Er ermöglichte in beschleunigtem Tempo die Produktion und den Konsum von Waren, die das Leben in unseren Gefilden reicher und bequemer machten – dank der billigen Arbeitskraft von Männern, Frauen und Kindern in der Peripherie sowie vor allem dank der Ausbeutung der natürlichen Lebensgrundlagen.

Das Schiff hat Schlagseite

Diese «imperiale Lebensweise», wie sie heute von einigen Theoretikerinnen genannt wird, schien eine ganze Weile zu funktionieren, auch wenn sich die Zeichen sozialer und ökologischer Krisen bereits im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts mehrten. Kritiker der aktuellen Klimadebatte wie der einst linke Schweizer Publizist Markus Schär wenden ein, schon damals sei das nahende Ende prophezeit worden – und doch lebe die Menschheit noch immer.1 Also alles halb so schlimm und weiter wie bisher? Wohl kaum, denn eine solche imperiale Lebensweise wird von einer untergründigen, aber durchaus verständlichen Angst regiert: Es kann nicht für alle reichen! Der französische Soziologe und Philosoph Bruno Latour bemüht das alte Bild der Titanic: «Die aufgeklärten Leute sehen, dass sie direkt auf den Eisberg zusteuern; ihnen ist bewusst, dass das Schiff untergehen wird; sie schnappen sich die Rettungsboote […], bevor auch die anderen Klassen bemerken, dass das Schiff bedrohlich Schlagseite hat.»2

Die «aufgeklärten Leute», das sind die neoliberalen Eliten, die Profiteure der Globalisierung, die sich weltoffen und progressiv geben, zugleich aber wissen, dass die von ihnen propagierte Modernisierung der Welt nicht allen zugute kommen wird – weil eben, so Latour, «der Planet für ihre Träume von grenzenlosem Wachstum nicht ausreicht».3 Eine vermeintliche Alternative zu den Neoliberalen, die das «Volk» verraten haben, bieten die Populistinnen. Deren Rezept lautet: Wenn schon nicht für alle genug vorhanden ist, dann soll es wenigstens für «unsere Leute» reichen. Damit machen Leute wie Donald Trump oder Viktor Orbán Politik. Wer diesen Weg zurück zum National­staat (allerdings unter den Bedingungen der Globalisierung) für brandgefährlich hält, hatte bislang kaum eine andere Wahl, als dem neoliberalen Lager doch noch irgendwie die Treue zu halten – selbst wenn die US-amerikanische Philosophin Nancy Fraser schon vor einiger Zeit zu Recht gefordert hat: «Die Linke muss sich der scheinbaren Alternative progressiver Neoliberalismus oder reaktionärer Populismus verweigern.»4

Ein neues «politisches Subjekt»?

Neoliberal-progressiv gegen populistisch-reaktionär – das ist, um mit dem deutschen Politologen Michael Jäger zu sprechen, ein «Problem der falschen Fronten».5 Was meint er damit? In der Regel wird unser Parteiensystem durch einen Links-Rechts-Gegensatz geprägt. Allerdings bewegen sich beide, Links wie Rechts, auf dem Boden der kapitalistischen Produktionsweise – selbst wenn zum Beispiel eine Partei wie die SP Schweiz in ihrem Parteiprogramm eine Überwindung des Kapitalismus propagiert.6 Jägers These lautet, dass sich im Streit zwischen dem linken und dem rechten Block das Kapital «unsichtbar» mache, denn beide Blöcke unterwerfen sich letztlich der gleichen Logik: Profitmaximierung durch Wirtschaftswachstum.7 Er fragt nach einem «Dritten Block», der die Logik des Kapitals brechen könnte. Im Blick auf die deutschen Grünen der 1980er Jahre schrieb Jäger seinerzeit, er verstehe unter einem solchen dritten Pol im politischen Feld eine «Gruppierung, die ihre Sachfrage wirklich radikal lösen will, selbst um den Preis des Kapitalismus».8

Überraschenderweise zeichnet sich mit dem Klimastreik, international auch unter dem Namen «Fridays for Future» bekannt, eine solche Gruppierung ab. Der deutsche Publizist Albrecht von Lucke nennt sie sogar «ein neues ‹politisches Subjekt›».9 Überraschend deshalb, weil noch vor wenigen Monaten niemand geglaubt hätte, dass die Protestaktion einer schwedischen Schülerin namens Greta Thunberg vor dem Parlamentsgebäude in Stockholm so viel Resonanz in ganz Europa und darüber hinaus finden würde. Es ist eine transnationale Jugendbewegung im Entstehen begriffen, die auch Erwachsene anspricht und in ihren Bann zieht. Diese Gruppierung will – um noch einmal Michael Jäger zu zitieren – ihre «Sachfrage», die Klimakrise, «wirklich radikal lösen». Könne den Forderungen der Klimastreikbewegung «im aktuellen System nicht nachgekommen werden», dann brauche es eben einen «Systemwandel», ist klipp und klar die gemeinsame Haltung der Bewegung.10

Das System versagt

Das Wort vom «System Change» geistert herum – und dies nicht nur Kreisen der Klima­ju­gend. So sorgte der deutsche Juso-Vorsitzende Kevin Kühnert erst kürzlich für einigen Wirbel, als er in einem Interview der Wochenzeitung Die Zeit erklärte: «Ohne Kollektivierung ist eine Überwindung des Kapitalismus nicht denkbar.» Konkret ging es dabei um die mögliche Zukunft eines Automobilkonzerns wie BMW. Kühnert sagte auch noch anderes, das einen Leser der Neuen Wege an den langjährigen Redaktor dieser Zeitschrift, Willy Spieler, erinnern konnte: «Was unser Leben bestimmt, soll in der Hand der Gesellschaft sein und demokratisch von ihr bestimmt werden. […] Eine Demokratisierung aller Lebensbereiche.»11 Vom Kapitalismus (zumindest westlichen Zuschnitts, in China mag das noch anders sein) geht ganz offenkundig keine Leuchtkraft mehr aus. Der slowenische Philosoph und Psychoanalytiker Slavoj Žižek schreibt dazu in seinem neuesten Buch: «Die vorherrschende Ideologie heute ist keine positive Vision irgendeiner utopischen Zukunft, sondern eine zynische Resignation.»12 Diskutiert werde nur noch, «wie man über die Runden kommt», so Juso-Chef Kühnert.

Die Frage nach dem «Modell», an dem sich seine Vorstellungen einer anderen Gesellschaft orientieren, lässt der deutsche Juso-Vorsitzende bewusst offen. Auch die zumeist als «unideologisch» bezeichnete Klimajugend verzichtet auf den Streit um das Ausmalen gesellschaftlicher Verhältnisse jenseits des heute Herrschenden. Sie hält allerdings fest, «dass die Lösungen, die wir brauchen, innerhalb des derzeitigen Systems nicht gefunden werden können», denn das «aktuelle System versagt». So ist es in einem Gastbeitrag von Greta Thunberg, Luisa Neubauer und anderen Klimaaktivistinnen in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zu lesen.13

Absage an die Spassgesellschaft

Es ist bemerkenswert, dass die hauptsächlich männlichen Kritiker der Klimajugend diese fundamentale Herausforderung nicht annehmen, sondern die Auseinandersetzung lieber auf einem anderen Feld führen: dem der Religion und der Moral. So schreibt der bereits erwähnte Markus Schär, bei den «streikenden Jungen samt ihren Sympathisanten» sehe er «religiöse Motive», die er dann aber lediglich an Begriffen wie «Apokalypse» und «Ablasshandel» festmacht. Solche «religiösen Motive» scheinen für diese Kritiker bedrohlich zu sein, denn sie deuten auf ein fundamentalistisches Denken hin, das sich vermeintlich wissenschaftlicher Aufklärung zu entziehen sucht. Die Kritiker verlegen sich zudem auf weitere Ausweichmanöver: Eine theologische Sicht der ökologischen Krise, wie sie etwa in der Enzyklika Laudato Si’ zu finden ist, wird gar nicht erst in Betracht gezogen. Franziskus deutet sie als eine Krise der Beziehungen der Menschen zu sich selbst, zu anderen Menschen, zur Schöpfung und zu Gott. Damit ist er durchaus anschlussfähig für aktuelle sozialwissenschaftliche Debatten, die beispielsweise der «Frage nach dem Unterschied zwischen gelingenden und misslingenden Weltbeziehungen» nachgehen.14 Deutet nicht die Klimakrise darauf hin, dass in Verhältnis zwischen Mensch und Natur einiges nicht mehr stimmt?

Kommen wir noch einmal zu Markus Schär zurück, der hier lediglich für einen bestimmten Kritikertypus stehen soll. Vielleicht passt ihm bloss nicht, dass sich die protestierenden Jugendlichen und jungen Erwachsenen durch eine grosse Ernsthaftigkeit auszeichnen, die er möglicherweise mit religiösem Eiferertum verwechselt. «Tatsächlich, wenn sich ältere Generationen unreif und unmündig verhalten, so scheint es Aufgabe der Jugendlichen zu sein, eine führende Rolle zu übernehmen», hält die Klima-Aktivistin Nathalie Appenzeller fest.15 Albrecht von Lucke schreibt: «Der neue radikale Ernst, diese Unbedingtheit der Jungen steht in totalem Kontrast zum Ironiegebot einer pubertären Spassgesellschaft», die sich in den vergangenen Jahrzehnten breit gemacht hat. Kein Wunder, dass wir «diese Schärfe, diesen moralhaltigen Ton, nicht mehr gewohnt» sind.16

Die Zeiten ändern sich

Mit ihrem «radikalen Ernst» widersprechen sie der von Slavoj Žižek beschriebenen herrschenden Ideologie zynischer Resignation. Sie verzichten auf programmatische Utopien und verweisen zugleich auf die Dringlichkeit des Problems. Manche, die der neuen Bewegung mit Sympathie und Einverständnis begegnen, mögen sich darum sorgen, ob die Jugend, die auf die Strasse geht, genügend Kraft entwickeln wird, ihre «Unbedingtheit» auf mittlere wie längere Frist durchzuhalten. Wir wissen: Soziale Bewegungen kommen und vergehen nach einer Weile wieder, um möglicherweise in anderer Gestalt erneut aufzutauchen. In der jüngeren Vergangenheit schienen deren Zyklen kürzer und deren Umfang geringer als in früheren Zeiten gewesen zu sein, wenn wir beispielsweise die Occupy-Bewegung mit den Friedens- und Umweltbewegungen des ausgehenden 20. Jahrhunderts vergleichen.

Zudem wurde der Protest gegen die herrschenden Verhältnisse in den vergangenen zehn Jahren vor allem von reaktionären Formationen aufgesogen. Hier deutet sich, wie bereits skizziert, ein grundlegender Wandel an. Es ist auch nicht zu erwarten, dass die Klima­jugend in das national-populistische Lager abdriften wird, denn mit der Forderung nach «System Change» steht tatsächlich der Kapitalismus zur Disposition. Entscheidend wird sein, dass trotz aller Zugeständnisse, welche Parteien zur Linken wie zur Rechten jetzt machen oder noch machen werden, die Vision der Klimagerechtigkeit – hier bei uns in der Schweiz wie global – nicht verloren geht und dafür tragfähige gesellschaftliche Bündnisse geschaffen werden. Dann kann auch der gängige Satz, viele Menschen könnten sich eher ein Ende der Welt als ein Ende des Kapitalismus vorstellen, seine Gültigkeit verlieren. Und dann kommt vielleicht auch der Bob Dylan von einst zu neuen Ehren: «For the times, they are a-changin’.» ●

  1. Markus Schär: Bekenntnisse eines Skeptikers. Geht es in der Klimadebatte wirklich nur um Erkenntnis? In: Neue Zürcher Zeitung, 17. Mai 2019, S. 38.

  2. Bruno Latour: Refugium Europa. In: Heinrich Geiselberger (Hrsg.): Die grosse Regression. 
    Eine internationale Debatte über die geistige Situation der Zeit
    . Berlin 2017, S. 135–148; Zitat S. 142.

  3. Latour (FN 2), S. 143.

  4. Nancy Fraser: Vom Regen des progressiven Neoli­beralismus in die Traufe des reaktionären Populismus. In: Geiselberger (FN 2), S. 77–91; Zitat S. 88.

  5. Michael Jäger: Gender und Parteiensystem. Links-rechts – das Problem der falschen Fronten. Frankfurt/M. 2015.

  6. So heisst es in der Kurzfassung des Parteiprogramms der SP Schweiz, die vom Parteitag in Lugano 2012 
    verabschiedet wurde: Die SP Schweiz «hat die Vision einer Wirtschaftsordnung vor Augen, die über den Kapitalismus hinausgeht und diesen durch die Demokratisierung der Wirtschaft letztlich überwindet».

  7. Jäger (FN 5), S. 33.

  8. Jäger (FN 5), S. 45.

  9. Albrecht von Lucke: «Fridays for Future»: Der Kampf um die Empörungshoheit. Wie die jüngere Generation um ihre Stimme gebracht werden soll. In: Blätter für deutsche und internationale Politik, 3/2019, S. 91–100.

  10. www.climatestrike.ch

  11. Jochen Bittner, Tina Hildebrandt: Was heisst Sozialismus für Sie, Kevin Kühnert? In: Die Zeit, Nr. 19, 2. Mai 2019, S. 19.

  12. Slavoj Žižek: Wie ein Dieb bei Tageslicht. Macht im Zeitalter des posthumanen Kapitalismus. Frankfurt/M. 2019, S. 274.

  13. Greta Thunberg, Luisa Neubauer, u.a.: «Wir wollen eure Hoffnung nicht. Wir wollen, dass ihr euch uns anschliesst». In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15. März 2019 (www.faz.net – abgerufen am 25. Mai 2019).

  14. Vgl. dazu Hartmut Rosa: Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung. Berlin 2016; Zitat S. 20.

  15. Nathalie Appenzeller: Wir wissen, was wir tun. In: Neue Zürcher Zeitung, 3. Mai 2019, S. 37.

  16. Von Lucke (FN 9), S. 99.

  • Kurt Seifert,

    *1949, lebt in Winterthur und ist Mitglied der Redaktion der Neuen Wege.