Professor Ragaz, die Brille leicht schief im Gesicht, sitzt auf einem erhöhten Stuhl vor dem gelben, vom «besten Architekten Graubündens gebauten steinernen Bündnerhaus in jenem starken und doch traulichen Stil»1, unweit des Heidsees auf der Lenzerheide, die eine Hand erhoben, ein Manuskript zum Thema «Bündnergeschichte» in der anderen. Etwa zwanzig Mädchen aus Zürich sitzen im Gras vor dem Haus «Casoja» und hören den Worten des Theologen zu. Im getäferten Schulzimmer steht Frau Ragaz an der Wandtafel und hält ein Referat über «Die Beziehungen von Mann und Frau im persönlichen und im öffentlichen Leben». Gleich wird Hausmutter Gertrud Rüegg ein sättigendes Mittagessen auf der sonnigen Terrasse servieren. Anschliessend ruhen sich die Mädchen in Liegestühlen aus, wandern nachmittags durch die «Wälder, Matten, Alpweiden» und freuen sich an «den Gräten und Gipfeln der Stätzerhorn- und Rothornkette».
Wer das heute noch bestehende Bergschulheim Casoja betritt und von der herzlichen Gastgeberin Jeannette Deflorin durch die warmen, schlichten Räume geführt wird, hat nicht nur obige Szenen lebhaft vor Augen, sondern kann sich gut vorstellen, wie hier von 1923 bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges religiös-soziale Ideale vermittelt und gelebt wurden. Im Zentrum der Arbeit im «Casoja» standen Bildung, Frauen- und Mädchenförderung, Gemeinschaft und die Nähe zur Natur.
«Casoja ist, wie wohl viele von unseren Lesern wissen, gleichsam die Alpenfiliale des ‹Gartenhofs› in Zürich, und zwar speziell desjenigen Teils seiner Arbeit, der den jungen Mädchen aus dem Proletariat und verwandten Schichten gewidmet ist.»
○ Leonhard Ragaz, Casoja, in Neue Wege 1/1925
Gertrud Rüegg und ihre Partnerin Milly Grob gründeten um 1919 an der Gartenhofstrasse 1 in Zürich den «Mädchenklub Gartenhof». Seine Treffen wurden inhaltlich von den Teilnehmerinnen selbst gestaltet. Die Aktivitäten reichten von Tanz, Lektüre («Dante, Milton, Tagore»2) über Vorträge bis zu Wanderungen. Bereits 1920/21 nahmen an den Mittwochstreffen durchschnittlich 54 Mädchen teil.3 1922 liess sich dann die Familie Ragaz an der gleichen Strasse in Hausnummer 7 nieder. Gertrud Rüegg hatte sie dabei unterstützt, ein Haus zu finden. Schon lange hatten Leonhard und Clara Ragaz die Vision eines «Settlements» nach englischem Vorbild, das Volksbildung und Gemeinschaftsleben verbinden sollte. Beide widmeten sich nun intensiv dem Aufbau dieses Orts, wo die Arbeitsgruppe «Arbeit und Bildung» bald schon erste Kurse zur Arbeiterbildung veranstaltete.
Clara und Leonhard Ragaz teilten eine lebenslange emotionale Verbundenheit mit ihrem Heimatkanton Graubünden. Claras Familie, die Nadigs, besassen in Parpan ein Ferienhaus. Zahlreiche Fotos zeugen von Urlauben an diesem schönen Ort. So erstaunen die romantischen Schilderungen von Leonhard nicht, als Gertrud Rüegg und Milly Grob mit Unterstützung seiner Familie unweit von Parpan im Volksschulheim Casoja ein weiteres Standbein für die Frauen- und Mädchenförderung fanden: «Denn man kann es erleben, was es für ein jugendliches Gemüt bedeutet, aus Enge und Hässlichkeit, Staub, Lärm und Wust der Stadt […], aus dem Druck von Fabrik, Laden oder Bureau auf einmal, vielleicht zum ersten Mal, hinaufgehoben zu sein in die Welt der Höhe mit ihrer Stille, ihrem Glanz, ihrer Reinheit.»4 Gertrud Rüegg ermöglichte 1924 die Finanzierung eines geräumigen Neubaus in Casoja, war sie doch, wie Ragaz schreibt, «inmitten eines grossen Reichtums aufgewachsen, aber seiner nicht recht froh geworden».
Die bauliche Gestaltung des Hauses zeigt eine überraschende Seite des Religiösen Sozialismus und von Leonhard Ragaz. Der Asketismus, die enorm hohe Arbeitsmoral und die bisweilen körperfeindlich wirkenden Ansprüche finden hier einen Kontrapunkt: Das Haus ist heimelig, liebevoll und lädt ein zu «Gesang, Musik, Lektüre», und auch an «Scherz und Schabernack» habe es nicht gefehlt. Für viele der Kursbesucherinnen aus der Arbeiterschicht bedeutete eine Woche Haushaltungskurs, Bürgerinnenkunde oder Schulung in Säuglingspflege auf Casoja eine aussergewöhnliche und dringend notwendige Erholung: «Ein Grossteil der Mädchen war erholungsbedürftig, erstarkte aber bei der gesunden Ernährung und Bergluft rasch. Einige mussten täglich 2–3 Stunden Liegekur machen.»5
Waren in den besten Zeiten über vier Sommerwochen verteilt mehr als hundert junge Frauen in Casoja, so brachen während der Kriegsjahre die Anmeldungen ein. Leonhard Ragaz berichtet 1939 ernüchtert davon, dass sein Einfluss auf das Haus schwand: «Casoja läuft Gefahr, seinem Wesen und seinem ursprünglichen Ziel: ein Organ der religiös-sozialen Erweckung, ohne jede Parteibildung zu sein, entfremdet zu werden.»6 Nachdem für die damalige Heimleiterin keine Nachfolgerin gefunden werden konnte und Ragaz 1945 starb, ging die Trägerschaft an den «Verein für ein Bergschulheim der Töchterschule Zürich» über. Heute gehört Casoja dem Gymnasium Hohe Promenade. Die ehemalige Bergbäuerin Jeannette Deflorin lebt im Haus und führt es in der gastfreundlichen Tradition, die Gertrud Rüegg vorgespurt hat. Wenn auch keine direkte Kontinuität des religiös-sozialen Wirkens in Casoja besteht, so ist der Geist der Anfänge doch spürbar.
Casoja war ein mutiges Projekt mit politischem Anspruch, initiiert von ausgewanderten Bündner*innen. Auch heute: Wer sich in Graubünden bewegt, begegnet überraschend vielen Menschen, die unkonventionelle Vorhaben in die Tat umsetzen. Dass es in diesem Kanton eine «höhere Dichte an Projekten mit unternehmerischem Furor und kulturellem, weltverbesserischem Anspruch» gibt als in vergleichbaren Regionen, vermutet im Gespräch auch Köbi Gantenbein. Er ist Autor verschiedener Bücher über Graubünden, Hochparterre-Verleger, zuhause in Fläsch/GR und engagiert als Präsident der kantonalen Kulturkommission sowie des Bündner Literaturpreises. Zum breiten Spektrum zählen besondere Hotels und Pensionen, kreative Handwerksbetriebe, Läden mit Gütern aus einheimischer Produktion oder Kulturorte an überraschenden Plätzen. Aber etwa auch der neue «Ilanzer Sommer» vom Forum für Friedenskultur gehört dazu, das selbstverwaltete Ferien- und Kurszentrum Salecina in Maloja, das seine Entstehung Impulsen von Unterländer*innen verdankt und 2022 den 50. Geburtstag feiert, oder die Kulturstiftung Origen, die das gebaute Erbe im Dorf Riom und der weiteren Umgebung bespielt. Die Landwirtschaft im Kanton ist zu bald zwei Dritteln bio. Und der Grossrat hat mit einer überwältigenden Mehrheit ein fortschrittliches Kulturförderungsgesetz angenommen.
Womöglich beeinflussen all diese Projekte und Entwicklungen die Ökonomie des Kantons nicht fundamental. Aber sie prägen sein Gesicht mit. Was sind Gründe für die flächendeckende Dichte an kreativen Initiativen? Köbi Gantenbein skizziert sie. Ein erster liegt in der Geografie und Geschichte des Kantons. Seine Kultur ist geformt von politischer, auch religionspolitischer Kleinräumigkeit. Die einzelnen Talschaften und vor allem die Gemeinden verfügen historisch über einen höheren Grad an Autonomie als in manchen anderen Teilen der Schweiz. Alltag und Arbeit waren über Jahrhunderte nicht zuletzt in genossenschaftlichen Formen organisiert. Aber auch hunderte kleinere und grössere Aristokraten teilten sich bis zum Fall des Ancien Régimes die Macht dezentral auf.
Ein zweiter Grund für die kulturelle Offenheit des Kantons liegt in seinem Charakter als Transitregion. Personen- und Warenverkehr über die hohen Pässe auf der Nord-/Südachse wie auch durch die grossen Täler in anderer Richtung haben zu andauernder Konfrontation mit Einflüssen von aussen und dadurch zu Aufgeschlossenheit geführt. Aber es waren nicht nur «Andere», die Graubünden passierten, es waren auch «Eigene», die auszogen. Somit liegt ein dritter Grund für das weniger verschlossene gesellschaftliche Klima als in anderen Bergregionen, wie auch Köbi Gantenbein betont, in der starken Emigration über alle Zeiten hinweg. Es gibt in den Tälern wenige Familien, die nicht Emigrationserfahrungen von Vorfahren dokumentieren können und diese auch im Bewusstsein tragen. Bis ins 19. Jahrhundert hinein spielte die Kriegsemigration mit dem Söldnerwesen eine nicht zu unterschätzende Rolle, heute noch sichtbar in Form von Palazzi und Palästen, etwa in der Bündner Herrschaft. Auswanderung und spätere Rückkehr zeichnen viele Biografien auch in der Gegenwart aus. Die Rückkehr erfolgt nicht nur aus der weiten Welt, sondern auch aus Zürich oder Bern, und nicht nur für Ferien, Kurse oder zum Bücherschreiben, wie das bei Clara und Leonhard Ragaz der Fall war, sondern oft für immer.
Mit «Meine Naturwurzeln» überschreibt Leonhard Ragaz Erinnerungen an seine Kindheit. Beim Dorf Tamins, zwölf Kilometer von Chur entfernt, wo Hinter- und Vorderrhein zusammenfliessen, mäht der jugendliche Leonhard die steilen Wiesen des Bauernbetriebs seiner Eltern unglaublich geschickt. Er freut sich schon auf die langen Sommerferien, wenn er wieder auf dem Maiensäss am Kunkelspass oben die Rinder hirten wird, wenn er sich an einen rauschenden Bergbach setzen und sich in der Stille den Blumen und Bäumen hingeben wird. Die Welt, in der Leonhard Ragaz 1868 geboren wurde und aufwuchs, hat ihn geprägt, die Welt, in der das Politische von der freiheitlichen Bündner Tradition, das Zusammenleben von dörflich-demokratischer Autonomie und die Landwirtschaft stark von gemeinschaftlich-genossenschaftlichen Strukturen bestimmt waren, die er als «Dorfkommunismus» bezeichnet.
«Jedenfalls ist mein Glaube an eine Gemeinschaftsordnung in der Wirtschaft, überhaupt der menschlichen Dinge, und in diesem Sinne an den Kommunismus, stark auch in diesem Erleben meiner Kindheit und Jugend begründet.»
○ Leonhard Ragaz: Mein Weg. Zürich 1952
Nach seinem Studium in Basel, Jena und Berlin kehrte der knapp 22-jährige Theologe 1890 schnurstracks wieder nach Graubünden zurück. Leonhard lebt jetzt am Heinzenberg in Flerden, zusammen mit seiner Schwester Nina, die ihm den Haushalt führt. Im Schulhaus, wo sie wohnen, schreibt er in den ersten Wochen einem Freund: «Ich bin jetzt Pfarrer am ewigen Schnee, in drei Gemeinden hoch oben in den Bergen inmitten einer grossartigen Alpenwelt, und verkündige einem kernhaften, soliden und aufgeweckten Volke ein möglichst undogmatisches Christentum.»7 Allerdings wechseln sich Begeisterung über die neue Tätigkeit mit grossen Selbst- und Weltzweifeln ab. Wenn er an den Wirt denkt, der ihn bei der Ankunft ein paar Tage zuvor mit den Worten «Wir hätten hier einen Vieharzt nötiger als einen Pfarrer»8 begrüsst hat, wenn er auf den vernachlässigten Dorffriedhof hinüberblickt, wenn er an den bärtigen Bauern denkt, der ihn am Sonntag in der Predigt ständig angegähnt und beim Beten die Hände in die Hosentaschen gesteckt hat, sieht er sich in der Rolle als «Restaurator eines halbruinierten kirchlichen Lebens»9. Aber er hat Zeit. Sobald der Schnee geschmolzen ist, geht er auf Wanderungen, er liest sehr viel, zum Beispiel Kierkegaard, aber auch die Bibel. Er beginnt, um fünf Uhr aufzustehen und sich bis zum Frühstück über die Bibel zu setzen.
Die Lektüre der Briefe und Erinnerungen von Ragaz bieten keinen Anlass, Kirche in Berggemeinden zu idealisieren. Neben Flerden war er Pfarrer in den Nachbardörfern Tschappina und Urmein. Wie sieht kirchliches Leben heute aus? An einem zufällig gewählten Sonntag im Winter 2022 gestaltet im Kirchlein von Urmein nicht der Pfarrer Jörg Wuttge den Gottesdienst – denn er betreut zusammen mit einem Kollegen acht Gemeinden –, sondern ein kompetentes Frauenteam vom Heinzenberg.
Im textlich und musikalisch wunderbar gestalteten Gottesdienst gehen Lisa Lanicca, Andrietta Ronner und Heidi Schumacher, ohne sich darauf zu berufen, auf religiös-sozialen Spuren weiter. Die Laiinnen predigen über das Warten auf das Reich Gottes. Sie teilen ganz persönliche Gedanken. Warten ist Sein, sagen sie. Aktives Sein: Das Christentum wolle angesichts der Klimakatastrophe, die sich gerade auch in Graubünden nicht mehr übersehen lasse, oder von im Mittelmeer ertrinkenden Geflüchteten die Welt auf den Kopf stellen.
Auch in diesem Gottesdienst waren ältere Menschen eher unter sich. Trotzdem schaffen diese Frauen der Kirche Zukunft. Sie verkörpern – die einen vor Jahrzehnten zugewandert, die andern aus der Region – lebendige Kirche vor Ort. Sie kennen und pflegen Traditionen, auch stellvertretend für Abwesende. Sie vernetzen Kirche mit der gesamten Bevölkerung. Etwa durch eine Kunstausstellung von lokalen Textilkünstler*innen in der Kirche, welche die Sigristin, Bergbäuerin und Schriftstellerin Regula Caviezel organisiert. Oder durch das Friedhofsprojekt von Andrietta Ronner in Flerden, wo sie zusammen mit einem befreundeten Gärtner in der Freizeit den – wie schon zu Ragaz’ Zeiten! – leicht heruntergekommenen Friedhof ökologisch umgestaltet. Zuerst musste sie den Gemeindepräsidenten überzeugen. «Jetzt gedeihen viel mehr Blumen von selbst, Margeriten, Malven, Glockenblumen, oder es wächst Thymian – und wir haben viel mehr Insekten.»
Die Kirche, gerade in Graubünden, vermag nicht mehr flächendeckende Versorgung zu betreiben, Pfarrer*innen können nicht mehr überall präsent sein. Schaffen sie den Rollenwechsel? Natürlich sind sie auch als «Hirt» noch gefragt, was Jörg Wuttge mit seinem entsprechenden Hut mit grossem Rand und seiner Nähe zu allen Menschen, denen er auf der Strasse oder im Restaurant begegnet, zu unterstreichen scheint. Aber die Arbeit der Pfarrer*innen, hier und anderswo, gelingt dann, wenn sie wie Wuttge Begleiter*innen, Impulsgeber*innen, Vernetzer*innen für jene Menschen vor Ort sind, die sich selber voll und ganz als Kirche verstehen und mit ihren Fähigkeiten ernst genommen werden wollen.
Leonhard Ragaz bezeichnete es schon 1892 als Vision und gleichzeitig als «riesiges, halb tollkühnes Unternehmen, aus der Pfarrerkirche eine Laienkirche zu machen»10. Er würde sich an diesem Sonntag in Urmein, 130 Jahre später, freuen.
«Der Hauptfehler unserer Gottesdienste scheint mir darin zu liegen, dass sie fast ausschliesslich in des Pfarrers Hand sind. In einer Zeit der demokratischen Hochflut geht das nicht mehr. Die Gemeinde ist immer mehr auch am geistigen Leben der Kirche zu beteiligen.»
○ Leonhard Ragaz: Unser Reformideal. Schweizerisches Protestantenblatt, Basel 1892
Im Spätsommer 1893 verlässt Leonhard Ragaz Flerden und zieht nach Chur. Das mag auch damit zu tun haben, dass er gesundheitlich instabil ist, eine Herzschwäche macht ihm zu schaffen. Nach zwei Jahren als Kantonsschullehrer wird er 1895 mit 27 Jahren Stadtpfarrer an der Martinskirche – Kanzel Nummer eins der Bündner Kirche. Er zweifelt weiterhin an seinen Entscheidungen, er hat manchmal Angst, früh sterben zu müssen. Aber er nimmt in der Stadt ein immenses Arbeitspensum auf, wird erfolgreicher Prediger, publiziert immer mehr. Als öffentliche Person übernimmt er Ämter im Churer Armenverein oder im Bündner Kirchenrat und setzt sich im Kampf gegen den Alkoholismus für das Rätische Volkshaus ein. Ragaz hat etwas zu sagen.
1894 lernt er an einem Hochzeitsfest eine Frau kennen und verliebt sich in sie. Aber es wird noch sechs Jahre dauern, bis er «das verehrte und geliebte Fräulein» Clara Nadig um ihre Hand anhält. Dann lässt auch sie sich noch monatelang Zeit. 1901 ist alles klar: Sie heiraten. Clara Nadig, 1874 in eine bürgerliche Churer Familie geboren, ist Lehrerin mit Berufserfahrungen in Frankreich, England und im Engadin. Sie wird mit Leonhard Ragaz zusammen die spätere Bewegung des Religiösen Sozialismus prägen und diesen mit ihrem Engagement für die Frauenfriedensbewegung, für solidarische Lebensformen und für das Recht der Frauen auf politische Partizipation wesentlich beeinflussen. In Chur sind Clara und Leonhard Ragaz miteinander gesellschaftspolitisch auf der Höhe der Zeit angekommen. Hier haben sie sich auch der Arbeiter*innenbewegung angenähert.
«Gerne hätte ich mich der Arbeiterinteressen noch nachdrücklicher angenommen, wenn Zeit und Kraft es erlaubt hätten. Es ist meine Überzeugung, dass die tiefsten und edelsten Motive der sozialen Bewegung übereinstimmen mit den grossen Prinzipien des echten Christentums und dass es geradezu Pflicht eines Pfarrers sei, mit den emporstrebenden Klassen zu gehen.»
○ Leonhard Ragaz: Brief an den Präsidenten des Grütlivereins beim Abschied aus Chur 190211
In den 1910er Jahren bis zum Zweiten Weltkrieg war in Graubünden eine starke religiös-soziale Bewegung aktiv. Bekannt ist eine Gruppe von Pfarrern, die sich ab 1910 regelmässig in Reichenau zu religiös-sozialen Konferenzen trafen.12 Ragaz selber war unterdessen in Zürich Theologieprofessor, griff immer häufiger politisch in das Zeitgeschehen ein und blieb dadurch auch in Graubünden für manche ein Leitstern. Die dortigen religiös-sozialen Pfarrer kamen in Verruf, heimliche lokale Anführer der Generalstreikbewegung 1918 zu sein. 17 der 23 religiös-sozialen Pfarrer im Kanton waren auch Mitglied der Vereinigung antimilitaristischer Pfarrer und trugen diese Anliegen in die Bündner Synode. Bei vielen bestand eine Nähe zur Sozialdemokratie. Aber es gab auch enge Verbindungen zur wichtigen Demokratischen Partei in Graubünden; ihr charismatischer Politiker Andreas Gadient (1892–1976) beispielsweise – er war Gross-, National- und Regierungsrat – war stark beeinflusst von Leonhard Ragaz.
Leonhard und Clara Ragaz’ Wirken fand seinen Höhepunkt ab 1921 in Zürich Aussersihl. Ragaz’ Blick auf die Landschaft der Lenzerheide, rund um das Volksschulheim Casoja, ist auch ein Sehnsuchtsblick aufs Land, aus dem städtischen Lärm und Dreck heraus. Diese Landschaft hat sich seither wesentlich verändert. War «Lenzerheide» in den 1920er Jahren noch «kein verlässlicher geografischer Hinweis»13, so ist sie heute eine der Top-Tourismusregionen des Graubündens; beschreibt Ragaz Casoja noch als stille Bergidylle, verzeichnet die Region heute jährlich mehr als 1,5 Millionen Hotelübernachtungen. Der touristische Boom begann just in den Jahren nach Ragaz’ Tod.
«Wo ein erhabener Gipfel ist, da ist er vorhanden, damit auf einer Bergbahn der Kommerzienrat leicht hinaufkönne; wo
die Schöpferhand ein besonders schönes Fleckchen Erde gebildet hat, da ist es geschehen, damit ein Hotel hingestellt werde.
Die Raubritter des Profits ziehen mit Geiergesichtern durch das Land und spähen jede geweihte Bergeinsamkeit aus, um dort den Giftbaum der Spekulation hinzusetzen.»
○ Leonhard Ragaz: Die neue Schweiz. Zürich 1918
Der Bündner Köbi Gantenbein benennt den Tourismus nicht zuletzt als «Geld-, Macht- und Entwicklungsmaschine»: Er müsse Themen wie Digitalisierung und Nachhaltigkeit aufnehmen. Er fragt: «Ist Tourismus in den Dimensionen, wie Graubünden ihn in Zentren wie Davos, Lenzerheide, Flims oder St. Moritz kennt, überhaupt nachhaltig möglich? Hebt der Anreiseverkehr mit eigenem Auto oder mit dem Flugzeug nicht alle CO2-Einsparungen vor Ort wieder auf?» Dass Tourismus auch «sanft» funktionieren kann, zeigen Täler wie das Puschlav oder das Safiental. Biodiversität fördern auch die Naturpärke des Kantons. Neue Grossprojekte, der internationale Naturpark Rätikon und der Park Adula, scheiterten allerdings an einem Nein der lokalen Bevölkerung, auch aus Angst vor Einschränkungen der lokalen Landwirtschaft durch den Naturschutz.
Nicht nur ökologische, sondern auch gleichstellungspolitische Anliegen haben es insbesondere in den Tälern, aber auch in der Stadt bisweilen schwer: «Aktuell sitzen im 21-köpfigen Churer Gemeinderat nur gerade vier Frauen. Das sind zu wenige und das wollen wir ändern!» SP-Mitglied und Soziologin Barbara Rimml ist gleichstellungspolitisch kein unbeschriebenes Blatt: Als Projektleiterin des Vereins «Pro Teilzeit» setzt sie sich besonders in Branchen ein, in denen Teilzeitstellen nicht etabliert sind. Auch im Frauenstreikkollektiv des Kanton Graubündens ist Barbara Rimml aktiv. Den Frauenstreik 2019 sieht sie als grossen Erfolg: Zweitausend Streikende haben sich in Chur daran beteiligt. Das habe einiges bewirkt – nicht zuletzt eine bessere Vernetzung unter feministischen Frauen. Das Kollektiv setze sich aus Frauen unterschiedlicher Altersgruppen zusammen, allerdings sei es sehr städtisch; Frauen aus den Bündner Tälern seien kaum vertreten. Das Kollektiv trifft sich monatlich zu einem Stammtisch, schreibt eine Kolumne in der «Südostschweiz», ist in verschiedenen thematischen Arbeitsgruppen organisiert und mit einer Internetseite im Netz präsent.
«Darum sage ich: Trotz aller Enttäuschungen – erst recht den Kampf um das Frauenstimmrecht. Trotz aller Enttäuschungen – erst recht den Kampf um den Weltfrieden!»
○ Clara Ragaz: Die Frau und der Friede, in Neue Wege 6/1915
Ein Anliegen des Kollektivs ist es, die Leistungen von Frauen des Kantons sichtbarer zu machen: Strassennamen sollen nach historischen Frauenfiguren benannt werden. Für die Benennung der neuen Brücke über die Plessur beim Welschdörfli in Chur reichte das Kollektiv Vorschläge ein, darunter «Clara Ragaz». Der Stadtrat entschied sich aber für die Bezeichnung «Italienische Brücke», weil er «all den italienischen Einwanderern und Einwanderinnen, die unsere Stadt mitgeprägt, in den fünfziger bis siebziger Jahren teilweise das Welschdörfli bewohnt haben und heute noch in Chur leben, seinen Dank und seine Wertschätzung ausdrücken» wolle.
So gibt es in Graubünden wenige Orte, die an Clara und Leonhard Ragaz erinnern. In Tamins konnte sich der Kirchgemeinderat nicht durchringen, zum 150. Geburtstag des berühmten Theologen und Propheten aus der eigenen Gemeinde Erinnerungstafeln zu erstellen. In Chur erinnert allein der Grabstein auf dem Friedhof Daleu an das Paar. Auf der Lenzerheide allerdings erinnert jetzt eine Tafel am Haus Casoja an die grosse Geschichte der Bündner Wurzeln des Religiösen Sozialismus.
«Ein Sozialismus, der nur nach der Herrschaft und Gewalt einer Klasse strebt, eine Genossenschaftsbewegung, die nur den materiellen Gewinn ihrer Mitglieder im Auge hätte, eine Frauenbewegung, die nur Frauenrechte wollte, eine Friedensbewegung, die nur auf die Abschaffung des Kriegs, nicht aber seiner tieferen Ursachen hinarbeitet, sie alle könnten noch nicht den Anspruch darauf erheben, Menschheitsbewegungen im tiefsten Sinne und damit wirkliche Friedebringer zu sein.»
○ Clara Ragaz: Die Frau und der Friede, Neue Wege 6/1915
Leonhard Ragaz: Casoja (Buchhinweis). In: Neue Wege 1/1925, S. 13–15.
Willy Spieler: Casoja (Buchhinweis). In: Neue Wege 6/1996.
Ruedi Epple: Das erste Settlement der Schweiz. In: Friedenszeitung 6/2013, S. 8–9.
Hans Rudolf Faerber: Casoja. Ein Erinnerungsbuch. Zürich 1996.
Ebd., S. 21.
Christine Ragaz et al.: Leonhard Ragaz in seinen Briefen. 3. Band: 1933–1945, S. 202.
Ebd., S. 11.
Leonhard Ragaz: Mein Weg. Band I, S. 133.
Leonhard Ragaz: Tagebuch III. Zit. nach Mario Florin: Leonhard Ragaz – seine Anfänge in Graubünden. In: Jahrbuch Historische Gesellschaft Graubünden (127/128) 1997/1998, Chur, S. 70.
Ragaz: Briefe (Fussnote 6), S. 15.
Ragaz: Briefe (Fussnote 6), S. 172.
Peter Aerne: Eine Überflutung von Ragaz?
In: Bündner Monatsblatt 5/2004, S. 339–382; ders.: Eine Hetze gegen die Religiös-Sozialen? Der Landesstreik von 1918 in Graubünden und die religiös-sozialen Pfarrer. In: Bündner Monatsblatt 1/2007, S. 39–54.
Faerber: Casoja (Fussnote 4), S. 10.
*1988, studierte literarisches Schreiben, Geschlechterforschung und Philosophie an der Kunsthochschule Bern und der Universität Basel. Sie ist Tanztherapeutin, schreibt freiberuflich und ist Co-Leitung der Neue Wege-Redaktion.
*1962, ist Co-Redaktionsleiter der Neuen Wege, Theologe und Vorstandsmitglied der Schweizerischen Menschenrechtsinstitution SMRI.