DZB Du hast in deinem Buch Die andere Schweiz. Asyl und Aktivismus 1973 bis 2000 die Geschichte der Schweizer Asylbewegung aufgearbeitet. Aus theologischer und religionsgeschichtlicher Perspektive besonders interessant sind deine Erkenntnisse zur Bedeutung des Kirchenasyls. Das Verhältnis von Kirchgemeinden und Asylbewegung spielt auch auf dem Buchumschlag eine Rolle – was genau ist dort zu sehen?
JP Es handelt sich um einen Ausschnitt einer Fotografie, die im November 1986 im Gemeindesaal der reformierten Kirche Bern-Bethlehem aufgenommen wurde. Es findet ein Banquet républicain statt, das den Anfang eines Kirchenasyls markiert. Der Saal ist lebendig, voller Leute. Prominent zu sehen sind zwei Tamilen, die einen zusätzlichen Tisch hereintragen. Die Organisator*innen hatten mit etwa 150 Leuten gerechnet, gekommen waren gegen 450. Was ich am Bild mag: Es zeigt Menschen, eine soziale Bewegung, ja eigentlich eine Protestaktion – aber es sind keine Banner, keine Parolen zu sehen. Wir sehen diejenigen, die sich als die «andere Schweiz» bezeichnet haben.
DZB Die Tischgemeinschaft ist natürlich ein kultur- und religionsgeschichtlich aufgeladenes Motiv. Was hat es damit und mit der Tradition der Banquets républicains auf sich?
JP Die Theologin Ursula Knecht brachte es gut auf den Punkt, als sie im Frühling 1987 im Zürcher Kaufleuten ein Banquet eröffnete. Sie begrüsste die Gäste und adressierte sie zugleich als Gastgeber*innen: «Denn wer an einem Banquet républicain teilnimmt, ist immer Gast und Gastgeber*in zugleich.» Bei der Tischgemeinschaft geht es um Gleichheit, um die Aufhebung herkömmlicher Unterscheidungen. So verstanden, knüpfen die Banquets an das antike Symposium und das frühchristliche Abendmahl an. In der antiken Polis war das Symposium, wo man sich zum Essen, Trinken und Diskutieren traf, auch ein wichtiges Symbol: Diejenigen, die sich gemeinsam an den Tisch setzen, sind freie und gleiche Bürger des Gemeinwesens und akzeptieren sich gegenseitig als solche. Im Abendmahl, in der Eucharistie, findet sich etwas Ähnliches wieder. Mit dem Unterschied, dass das Abendmahl dem Prinzip nach universell, nicht auf ein etabliertes Gemeinwesen begrenzt ist. Die Banquets républicains als solche entstammen der französischen revolutionären Tradition: In der Restauration nach 1815 trafen sich Menschen zum gemeinsamen Essen und Trinken, um die Einschränkungen der Versammlungs- und Meinungsfreiheit zu umgehen. Auch diese Banquets lehnten sich an Symposium und Abendmahl an. Die Teilnehmenden der Banquets erachteten sich gegenseitig als frei und gleich und verlangten das Stimmrecht zumindest für alle Männer – und nicht nur für wenige Vermögende, wie es das Zensuswahlrecht in der Restauration festlegte.
DZB Wie aber kam diese Praxis in die Asylbewegung der 1980er Jahre?
JP Im Frankreich der 1980er Jahre, wo der Front National unter Jean-Marie Le Pen erstarkte, erinnerten sich einige Linke an die Banquets républicains von einst. Die Idee war, mit der Besinnung auf die revolutionäre Tradition die linke Regierung Mitterrand zu unterstützen. In der Schweizer Asylbewegung gab es starke Verbindungen aus der Romandie und auch via Longo Maï in Basel nach Frankreich. Auf diesem Weg kam die politische Praxis der Banquets in die Schweiz, wo man sie in die asylpolitische Auseinandersetzung der Zeit übersetzte. Es ging darum, ein anderes «Wir» auftreten zu lassen als jenes nationalistisch-völkische, das im Asyldiskurs die Hauptrolle spielte. Und es ging darum, öffentlich darzulegen, warum man – nicht gegen die Republik und Demokratie, sondern um deren Willen – zu offiziell unautorisierten Mitteln wie dem Kirchenasyl griff.
DZB Auf dem Buchumschlag steht ein Mensch im Zentrum: Die beiden Männer, die den Tisch hereintragen, rahmen einen sitzenden Mann, der so ins Bildzentrum gerückt ist. Der Fokus auf einzelne, konkrete Menschen: War nicht dies der Grund, warum Kirchgemeinden sich getrauten, gegen staatliche und kirchliche Obrigkeiten Schutz zu gewähren?
JP Genau. So konnte man das damals gerade auch in den Neuen Wegen lesen. Der langjährige Redaktor Willy Spieler führte 1986 und 1987 lesenswerte Gespräche mit Jacob Schädelin, damals Pfarrer in Bern-Bethlehem, und mit dem Zürcher Pfarrer Peter Wals, der in Seebach kurz zuvor ein grosses Kirchenasyl mitverantwortet hatte1. Theologisch gingen sie davon aus, dass die versammelten Menschen als Gemeinde Schutz bieten können und hierüber entscheiden. Anders als in der katholischen Tradition verstand man den Schutz nicht als etwas, das von den Sakralräumen an sich ausgeht. Im Fall der «Berner Tamilen» war diese Strategie erfolgreich: Getragen von 26 Kirchgemeinden erreichte die Aktion, dass der Kanton Bern sich schliesslich – während das ganze Land gebannt zuschaute – gegen das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement und den Bundesrat stellte.
DZB Im Buch fasst du den Asylaktivismus auch mit der politischen Philosophin Hannah Arendt und mit dem Philosophen und Historiker Jacques Rancière. Mir scheint deine Forschung gerade wegen deiner Fragen nach dem politischen Subjekt, nach Solidarität und Repräsentation für aktuelle linke Debatten anschlussfähig. Was genau passiert denn gemäss Rancière, wenn sich Menschen mit Schweizer Pass und rechtlose abgewiesene Asylsuchende bei einem Banquet zusammen an einen Tisch setzen?
JP Mit Rancière kann man sagen, dass sich die engagierten Schweizerinnen und Schweizer in «unmöglicher» Weise mit den unerwünschten «Fremden» identifiziert haben. Das klang damals etwa so: «Ein Staat, wo die Würde des Menschen nur so lange etwas zählt, als sie nichts kostet und politisch opportun ist, bedroht nicht nur die Fremden, die jetzt davon betroffen sind, sie bedroht uns alle, macht uns alle zu Fremden in diesem Land.» Unmöglich ist diese Identifikation gemäss Rancière, weil sie juristisch und soziologisch natürlich nicht stimmt: Die Schweizer*innen verlieren ihre Staatsbürgerschaft ja nicht, wenn sie sich als «Fremde» bezeichnen, und bleiben gegenüber den Asylsuchenden in allen erdenklichen Hinsichten privilegiert. Aber dieser Akt ermöglichte, «Fremde» zu einem politischen Namen zu machen.
Ich habe bewusst darauf verzichtet, das Verhältnis zwischen Solidarischen und Betroffenen in erster Linie als Frage der Privilegien und des humanitären Paternalismus zu behandeln. Diese Perspektive hat in den letzten Jahren in Forschung und Öffentlichkeit viel Aufmerksamkeit bekommen. In der Auseinandersetzung mit meinem Material lege ich eine etwas anders gelagerte Analyse vor: Was die Asylbewegten abgelehnt haben, war Staatsbürgerschaft als Gegebenheit der Geburt. Sie haben zusammen mit den Asylsuchenden ein offenes «Wir» behauptet und den hierarchischen Auf- und Zuteilungen der gesellschaftlichen Rollen widersprochen.
DZB Du schreibst im Buch aber auch, die Geflüchteten hätten in der Bewegung nicht die Hauptrolle gespielt und wohl auch nicht spielen können. Was meinst du damit?
JP Die Rolle der Geflüchteten ist komplex. Um bei den Banquets zu bleiben: Anhand der im Nachgang publizierten Broschüren ergibt sich ein klares Bild, wer dort in erster Linie das Wort ergriffen hat. An jenem in Bern-Bethlehem haben die Tamil*innen vor allem gekocht und geholfen, den Raum herzurichten. Insgesamt habe ich jedoch weitaus mehr Wortergreifungen und Protestaktionen von Asylsuchenden selbst gefunden, als ich anfangs erwartet hatte. Was sich dabei aber auch herausstellte: Wenn es in Flüchtlingslagern zu Kritik und Protest kam, schritt die Polizei extrem schnell ein. Hannah Arendt hatte nach dem Zweiten Weltkrieg geschrieben, dass sich die Situation von Flüchtlingen dadurch auszeichnet, dass ihre Meinungen kein Gewicht haben und ihre Handlungen ohne Belang sind. In gewissem Sinn fand ich das für die von mir untersuchte Zeit bestätigt: Von sich aus konnten Geflüchtete bei den Institutionen und in der breiten Öffentlichkeit keinerlei Gehör finden. Irrelevant waren diese Aktionen dennoch nicht: Sie haben das Interesse der entstehenden Asylbewegung geweckt. Für die Entwicklung der «anderen Schweiz» waren aufbegehrende Geflüchtete sehr wichtig. Und auf diesem Weg haben immer wieder Asylsuchende den Weg in die vielen asylbewegten Komitees, Gruppierungen und Initiativen gefunden.
DZB Ausgehend von den ignorierten und unterdrückten Protesten in den Asylunterkünften, lassen sich die Banquets doch als politische Praxis verstehen, mittels derer rechtlose Subjekte in einen Raum geholt wurden, in dem sie Rechte erhielten. Dann verstehe ich aber deine Bemerkung nicht, dass die Flüchtlinge «nur» gekocht, geputzt und aufgeräumt hätten. Aus feministischer Perspektive sind das Kochen, das Einrichten und Aufräumen zentral: Ohne Tische und Stühle könnte niemand sitzen, ohne Essen und Trinken gäbe es kein geselliges Zusammensein. Wer an den Banquets Reden geschwungen hat, ist das eine. Aber das Bild auf deinem Buchcover spricht nochmals eine andere Sprache: Es zeigt, dass Flüchtlinge in sozialen, öffentlichen Räumen handlungsfähig wurden. Und es ist meiner Meinung nach kein Zufall, dass es auch kirchliche Räume waren, in denen diese «unmögliche Identifikation» stattfand. Weil niemand damit rechnete, dass Kirchen auch politische Räume sein könnten. Die Asylbewegten haben die verschiedensten Räume genutzt – eben auch kirchliche –, und das war die Stärke ihrer Bewegung. Das war das Momentum der 1980er Jahre. An Banquets, bei Kirchenasylen zeigte man: Wir sind eine religiöse, ökumenische, interkulturelle Gemeinschaft – und wir sind auch eine politische Gemeinschaft.
JP Du sprichst etwas Wichtiges an. Keine politische Bewegung könnte ohne das Kochen, das Sich-Kümmern um menschliche Bedürfnisse funktionieren. Aber es gibt eine gesellschaftliche Hierarchie der Tätigkeiten. Kritisch ist vor allem, wenn immer die Gleichen für bestimmte Tätigkeiten als besonders «geeignet» erachtet werden. Das ist die normale soziale Logik. In unserem Fall: Die solidarischen Schweizer*innen reden, und die Geflüchteten kochen für sie. Aber wie allein die erwähnten Wortergreifungen und Proteste von Geflüchteten zeigen, lagen die Dinge zum Glück längst nicht so eindeutig. «Ökumenisch» beschreibt die Asylbewegung tatsächlich gut. Aber man muss «ökumenisch» dabei nicht nur interkonfessionell, sondern in einem umfassenden Sinn begreifen. Engagierte Christ*innen und Linke verschiedener Couleur bildeten den Kern der Bewegung, aber sie strahlte weiter aus. Auch wenn sie an der Urne bei Referenden immer ziemlich deutlich verlor, war die Bewegung in Sachen Weltanschauung, Alter oder sozialem Milieu doch sehr heterogen und damit gesellschaftlich breit abgestützt und auch in diesem Sinn eine «andere Schweiz».
Jonathan Pärli: Die andere Schweiz. Asyl und Aktivismus 1973–2000. Konstanz 2024, 450 Seiten.
Vgl. Neue Wege 7/8.1986 und Neue Wege 2.1987
*1987, promovierte an der Universität Fribourg. Heute lehrt und forscht er als Bereichsassistent zur Geschichte der Moderne an der Universität Basel.
*1988, ist Religionswissenschaftlerin und im Frauen*Zentrum Zürich (fraum.ch) aktiv.