Des Kaisers neue Kleider?

Kurt Seifert, 23. September 2019
Neue Wege 10.19

Maos China war für manche Linke ein Ort der Sehnsucht. Mit revolutionären Träumen hat dieses Land heute nichts mehr zu tun. Stattdessen ist es zum Symbol eines gewaltigen wirtschaftlichen Fortschritts geworden. Erkundungen eines Reisenden.

Wer China gegen Ende der 1970er Jahre besuchte, begegnete einem Entwicklungsland mit weit verbreiteter Armut, aber einem spürbaren Willen, die alten Hinterlassenschaften des Feudalismus, Kolonialismus und Imperialismus abzutragen und eine ganz neue Gesellschaft aufzubauen. Dafür stand die Figur des noch nach seinem Tod verehrten «Grossen Vorsitzenden» Mao Zedong. Er hatte einst verkündet, Rebellion sei gerechtfertigt – und diese Botschaft war auch bei uns angekommen.

Die Volksrepublik China wurde zu jener Zeit von zahlreichen Menschen weltweit als konkrete Utopie wahrgenommen: eine reale Alternative zum zerstörerischen Konsumkapitalismus und zum heruntergekommenen «Sozialismus» sowjetischer Machart. Dies glaubten nicht nur jugendliche Mao-­Jünger*innen wie ich, sondern auch so ehrenwerte Leute wie der Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger. Angesichts bereits damals erkennbarer Anzeichen einer globalen ökologischen Krise hatte er 1973 vollmundig verkündet, die chinesische Regierung entwickle als einzige in der Welt «konsequente Strategien zur Verhinderung der Katastrophe».1

Die dunklen Seiten der Geschichte

Um einen bekannten Ausspruch des früheren Regierenden Bürgermeisters von Berlin, Klaus Wowereit, zu variieren: China war zu jener Zeit arm, aber durchaus attraktiv. Der Blick von aussen richtete sich weniger auf die noch stark zurückgebliebene ökonomische Basis, sondern viel eher auf das richtige, revolutionäre Bewusstsein, das dort vorhanden zu sein schien. Viele glaubten, in China finde eine wahrhafte «Revolution in der Seele» statt, wie der Journalist Peter Kuntze sein Bekenntnis formulierte.2 Rund ein halbes Jahrhundert später lässt sich das ohne weiteres als Projektion entziffern: Draussen suchten wir, was uns zuhause fehlte.

Dabei wurden die dunklen Seiten der jüngeren chinesischen Geschichte gerne übersehen. Millionen von Menschen starben während des «Grossen Sprungs nach vorne» (1958–1961), der zu einer grundlegenden Umwandlung der Landwirtschaft führen sollte, an Unterernährung. Diese Toten kamen in den begeisterten Berichten über die Errungenschaften der Revolution nicht vor. Der US-amerikanische Journalist Edgar Snow, der mit seinem erstmals 1938 veröffentlichten Buch Red Star over China Mao Zedong im Westen bekannt gemacht hatte, war 1960 auf dessen Einladung nochmals durchs Land gereist. Anschliessend erklärte er, es gebe keine Hungersnot – wohl aber Missernten, die eine Rationierung erforderten.3 Erst zwanzig Jahre später räumte die chinesische Führung ein, zwanzig Millionen Menschen seien damals verhungert. Heutige Schätzungen gehen von einer mindestens doppelt so hohen Zahl aus. Mao trage «die historische Verantwortung für die grösste Hungersnot der Weltgeschichte», erklärt der Sinologe Daniel Leese.4

Mao-Devotionalien

Anders als während der Mao-Ära und unmittelbar danach sind die desaströsen Folgen des «Grossen Sprungs» heute kein Tabuthema mehr. So berichtete der Reiseleiter, der uns während einer achtzehntägigen Tour durch China begleitete, sein Grossvater mütterlicherseits sei Opfer jener Hungersnot geworden. Dieser entstammte einer Familie reicher Bauern und gehörte der antikommunistischen Guomindang an. Trotzdem hatte er beschlossen, auf dem Festland zu bleiben und nicht, wie viele andere Parteimitglieder, nach dem Sieg der Kommunist*innen auf die Insel Taiwan zu fliehen. Weil er den «Roten» als politisch unzuverlässig galt, wurde er zur Strafe in ein entfernt liegendes Dorf versetzt und starb dort an den Folgen des Hungers. Seine sechs Töchter überlebten.

In China herrsche heute ein «kapitalistischer Sozialismus», lautet das Urteil des Reise­leiters. Von Mao hält er nicht viel: Der sei in seinem Denken immer ein Bauer geblieben und habe keine vertieften Kenntnisse der Welt besessen. Das ist der Blickwinkel eines Angehörigen der arrivierten städtischen Mittelschicht. Wie wohl weniger Privilegierte das sehen? Und noch eine ganz andere Frage beschäftigte mich während dieser Reise: Wie steht es eigentlich um den revolutionären Geist von einst? Das Bildnis von Mao ist noch immer auf den Banknoten zu finden, und am südlichen Tor des alten Kaiserpalastes, gleich beim Platz des Himmlischen Friedens (Tian’anmen), prangt sein Porträt. In den kleinen Läden der Altstadt (Hutong) von Beijing sind Mao-­Devotionalien in Fülle zu finden. Die «Mao-Zedong-Ideen» gelten offiziell immer noch als Richtschnur für das Handeln der Kommunistischen Partei Chinas.

Ende der Armut – Ende des Klassenkampfs?

Vierzig Jahre nach Beginn der so genannten Reformpolitik sind Städte wie Beijing oder Shanghai mit ihren gewaltigen Hochhäusern und riesigen Strassen kaum wiederzuerkennen, und auch auf dem Land gingen enorme Umwälzungen vor sich. Statt, wie einst, von Fahrrädern wird der städtische Verkehr heute von Unmengen von Autos und elektrisch betriebenen Motorrollern beherrscht. Mehrere Jahrzehnte eines ständigen Wirtschaftswachstums haben es möglich gemacht, dass die meisten Menschen in China an einem mehr oder weniger bescheidenen Wohlstand teil­haben können. Die früher weit verbreitete Armut wurde beinahe besiegt: Die Zahl der Armen in China reduzierte sich um rund 800 Millionen Menschen. Das sind mehr als siebzig Prozent aller Personen, die in dieser Zeit weltweit der materiellen Not entkamen.5

Der Preis dafür ist allerdings eine wachsende soziale Ungleichheit. Ende der 1970er Jahre war China eine relativ homogene Gesellschaft auf niedrigem wirtschaftlichem Niveau. Heute ist die soziale Kluft zwischen den Klassen deutlich gewachsen: Der Gini-­Koeffizient – ein Mass für die Ungleichheit – ist in der Volksrepublik von 0,28 im Jahr 1981 auf 0,46 im Jahr 2018 gestiegen.6 Das sollte eigentlich ein äusserst dringliches Problem für Kommunist*innen sein. Doch von der Existenz von Klassen, von Gegensätzen zwischen den Klassen, gar von Klassenkampf ist offiziell keine Rede mehr. Selbst der Erste Mai wird nicht mehr als Kampftag der Arbeiter*innenklasse gefeiert, sondern als grosses Shopping-­Erlebnis, wie ich in Shanghai feststellen konnte. Die offizielle Doktrin seit den Tagen des führenden Reformpolitikers Deng Xiaoping lautet, dass erst Reichtum entstehen müsse, bevor Gerechtigkeit geschaffen werden könne.

Massenloyalität und bröckelnde Zustimmung

Der wirtschaftliche Aufschwung hat, trotz wachsender Widersprüche in der Gesellschaft, eine starke Loyalität der Massen mit dem herrschenden Regime geschaffen. Der Stolz vieler Bürger*innen Chinas auf die Errungenschaften ihres Landes und dessen wachsende Bedeutung in der Welt verbindet sich mit einem von der Kommunistischen Partei geförderten Patriotismus, der gemäss den Worten von Präsident Xi Jinping der «Zement» sein soll, der die Nation zusammenhält. So äusserte er sich anlässlich des 100. Jahrestags der Bewegung des Vierten Mai. Damals protestierten chinesische Student*innen gegen den Versailler ­Vertrag, der die ungleichen Verträge nicht aufhob, mit denen China durch die Kolonialmächte geknechtet worden war. Diese Protestaktionen gelten als erste politische Massenbewegung in der chinesischen Geschichte – und für Xi als Beginn von Chinas neuer demokratischer Revolution, deren Vollstreckerin die Kommunistische Partei sein soll.7

Daraus spricht ein anderes Verständnis von «Demokratie» als jenes, das im Westen üblich ist. Auch in China gibt es Wahlen, doch sie spielen keine entscheidende Rolle. (Der erwähnte Reiseleiter hat sich erst zweimal an solchen beteiligt.) Als viel wichtiger erweist sich die Fähigkeit des Regimes, das Land zu einen und voranzubringen. Daran scheinen gegenwärtig nur wenig Zweifel zu bestehen. Wird diese Massenloyalität die herrschende Macht auch weiterhin tragen? Bei einer Gesprächsrunde mit Studierenden und Lehrenden einer Universität in Shanghai werden leise Zweifel geäussert. Eine junge Frau meint, die Generation der Eltern habe vom sozialen Aufstieg profitiert und sei deshalb gegenüber dem bestehenden System positiv eingestellt. In ihrer eigenen Altersgruppe hingegen bröckle die Zustimmung.

Solidarität ist gefährlich

Es gibt Systemkritik, auch wenn die Spielräume dafür sehr gering sind. Ein Marxismus-­Dozent erläutert mir dies am folgenden kleinen Beispiel: «Wenn ich über die Lage der Arbeiterklasse in Vietnam spreche und über die Schwierigkeiten, welche die dortigen Arbeiter und Arbeiterinnen bei der Vertretung ihrer Interessen erleben, dann wissen meine Studentinnen und Studenten ganz genau, dass ich eigentlich die chinesische Arbeiterklasse und deren Lage meine.» Die Studierenden seien gut informiert und wüssten, was in China laufe – und dies trotz intensiver staatlicher Überwachung der elektronischen Netzwerke.

Wer allerdings die von der Kommunistischen Partei verkündeten Lehren zu ernst nimmt und die marxistische Analyse auf die gegenwärtigen chinesischen Verhältnisse anwendet, bekommt es mit der geballten Staatsmacht zu tun. So geschehen im vergangenen Jahr, als sich marxistische Lesegruppen an verschiedenen Universitäten mit streikenden Arbeiter*innen solidarisierten. Daraufhin wurden mehrere studentische Aktivist*innen verhaftet, unter ihnen Yue Xin, eine Absolventin der Peking-Universität in Beijing und Symbolfigur der chinesischen MeToo-Bewegung. Auch Mitglieder einer Shanghaier Marx-­Lesegruppe wurden vorgeladen und mussten nachweisen, dass sie nicht in Kontakt mit dem Kreis in Beijing standen. In der Zwischenzeit haben die Behörden die Lesegruppen «reorganisiert», wie mir ein Kenner der Situation mitteilte. Jetzt werden in diesen Arbeitskreisen Texte von Xi Jinping gelesen.

Vom Wechseln der Farbe

Ist die kommunistische Ideologie nur noch eine leere Hülle? Sind ihre Phrasen die sprichwörtlichen neuen Kleider des Kaisers, der keine eigene Legitimation mehr besitzt – bloss noch die mehr oder weniger nackte Gewalt? Mao hatte schon früh die Befürchtung geäussert, eine neue bürgerliche Klasse könne eines Tages die Macht übernehmen. Beinahe prophetisch formulierte er 1963: Wenn es nicht gelinge, den Bürokratismus auszumerzen und den Dogmatismus zu vermeiden, dann werde «unvermeidlich in nicht langer Zeit […] die konterrevolutionäre Restauration das ganze Land erfassen» und die kommunistische Partei werde sich «in eine revisionistische, in eine faschistische Partei verwandeln, und ganz China wird die Farbe wechseln».8

Die Partei würde die Behauptung weit von sich weisen, sie habe nichts mehr mit dem Marxismus zu tun. Wie ich mir sagen liess, sind die Stellen für Marxismus-­Dozent*innen an den Universitäten stark ausgebaut worden. Xi Jinping fährt seit seiner Wahl zum KP-Vorsitzenden 2012 einen deutlich entschiedeneren ideologischen Kurs als seine Vorgänger. Dabei scheut die Parteiführung allerdings alle sogenannt linken Abweichungen wie der Teufel das Weihwasser. Dazu zählt vor allem die Kulturrevolution (1966–1976). Die offizielle Haltung lautet heute, dass es sich dabei um einen blossen Machtkampf gehandelt habe – und nicht um den möglicherweise fehlgegangenen Versuch, die Verbürgerlichung der Revolution aufzuhalten. Deshalb müsse sie umfassend verneint werden, ist in einer offiziösen Darstellung eines führenden Funk­tionärs des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Chinas zu lesen.9

So wird das auch von der Mehrheit jener Intellektuellen gesehen, die ich in Shanghai getroffen habe. Mein Plädoyer für emanzipatorische Aspekte der Kulturrevolution, das die dabei zum Ausdruck gekommene Gewalt nicht rechtfertigen sollte, stiess bei den Gesprächspartner*innen auf einiges Unverständnis. Einzig der erwähnte Marxismus-Dozent berichtete von seinen Eltern, diese hätten ihm ein durchaus positives Bild jener Zeit vermittelt. Sie seien als Jugendliche freiwillig aufs Land gegangen, um von den Bäuer*innen zu lernen. Seine Mutter habe sich als Mädchen für Volkstanz begeistert und während der Kulturrevolution darin ihre Erfüllung gefunden.

Was will China?

Die Volksrepublik lässt sich nur schwer auf den Begriff bringen, auch wenn dies viele versuchen. Für die einen stellt dieses Riesenreich den kommenden Konkurrenten des liberalen Westens dar. Ein entscheidendes Stichwort dafür ist der mit Informationstechnologien und Künstlicher Intelligenz hochgerüstete Überwachungsstaat, der immer weiter perfektioniert werden soll. Auf der anderen Seite sieht beispielsweise die Exportwirtschaft der westlichen Industriestaaten vor allem gewaltige Investitionsmöglichkeiten und Profitchancen. Kann es da eine dritte Position zwischen Sinophobiker*innen und Sinophilen geben? Das chinesische Volk hat gewaltige Anstrengungen unternommen, sich aus Armut und Fremdherrschaft zu befreien. Diesem Volk ist noch einiges zuzutrauen – möglicherweise auch im Sinne eines emanzipatorischen Beitrags zur Weltgeschichte.

Kurt Seifert *1949, besuchte China erstmals 1978 als Mitglied einer Reisegruppe der Gesellschaft für deutsch-chinesische Freundschaft, zum zweiten Mal zusammen mit seiner Frau im Frühjahr 2019. Er lebt in Winterthur und ist Redaktionsmitglied der Neuen Wege.

  1. Zitiert nach Joachim Schickel: Grosse Unordnung, grosse Ordnung. Annäherungen an China. Berlin 1978, S. 132.

  2. Peter Kuntze: China – Revolution in der Seele. Frankfurt / M. 1977.

  3. Edgar Snow: Gast am anderen Ufer. Rotchina heute. München 1964, S. 629 ff; zitiert nach Joachim Schickel: Grosse Mauer, Grosse Methode. Annäherungen an China. Frankfurt / M. 1976, S. 129. Red Star over China erschien 1970 unter dem Titel Roter Stern über China erstmals in einer deutschen Übersetzung.

  4. Daniel Leese: Die Chinesische Kulturrevolution 1966–1976. München 2016, S. 19.

  5. Vgl. dazu Jörg Kronauer: Der Rivale. Chinas Aufstieg zur Weltmacht und die Gegenwehr des Westens. Hamburg 2019, S. 24 f. Siehe auch die Rezension auf S. 33.

  6. Vgl. dazu Kronauer (FN 6), S. 24.

  7. An Baijie: Patriotism the cement uniting nation, Xi says. In: China Daily, 1.5.2019.

  8. Zitiert nach: Die Polemik über die Generallinie der internationalen kommunistischen Bewegung. Berlin 1970, S. 532. Das Original dieses Bandes erschien 1965 in Peking.

  9. Chen Jin: China in Mao Zedong’s Era. Beijing (Foreign Languages Press) 2018, S. 259.

  • Kurt Seifert,

    *1949, lebt in Winterthur und ist Mitglied der Redaktion der Neuen Wege.