In der Sozialhilfe zu sparen, ist nicht rational

Matthias Hui, 5. Juni 2023
Neue Wege 6.23

Spare in der Zeit, dann hast du in der Not, heisst es. Aber Menschen in der Sozialhilfe dürfen keine Ersparnisse haben. Sie geraten oft in einen Strudel immer grösserer Abhängigkeit. Und der Staat spart ausgerechnet bei ihnen, wo Sparen gar keinen Sinn macht. Ein Gespräch mit zwei Expert*innen der Unabhängigen Fachstelle für Sozialhilferecht über ihre täglichen Erfahrungen mit Armutsbetroffenen in der Schweiz.

Sehen sich Menschen, die Sozialhilfe in Anspruch nehmen müssen, oft gezwungen, ihr Erspartes aufzubrauchen?

Andreas Hediger Das Vermögen aufzubrauchen, ist eine Voraussetzung, überhaupt in die Sozialhilfe zu kommen. Je nach Kanton ist der Vermögensfreibetrag höher oder tiefer. Oder er liegt gar bei null. Wenn eine Person beispielsweise im Kanton Thurgau Sozialhilfe bezieht, gibt es keinen Vermögensfreibetrag. Wenn diese Person fünfzig Franken auf ihrem Konto hat, werden diese mit der ersten Auszahlung von Sozialhilfegeldern verrechnet, sie erhält fünfzig Franken weniger.

Zoë von Streng Zu uns in die Beratung kommen Menschen, die kein Geld haben, weil sie ­keinen Lohn haben, keine Ersparnisse, kein ­Vermögen, die nichts geerbt haben und deshalb in der Sozial­hilfe sind. Die meisten Betroffenen warten sehr lange, bis sie den letzten Schritt tun und zum Sozialamt gehen. In diesem Moment haben sie nichts mehr oder eben bereits Schulden. Sie versuchten mit den letzten Ersparnissen über die Runden zu kommen und haben so vielleicht nötige Anschaffungen verschoben. Sie waren dann nicht beim Zahnarzt, sie haben das uralte Bett nicht ersetzt. Sie haben zu lange gespart und sind zu spät zum Sozialamt gegangen.

Weshalb warten Menschen so lange, bis sie zum Sozialamt gehen?

AH Das kann Unwissenheit sein, man hat keine Ahnung, dass man Anspruch auf Sozialhilfe hat oder ab wann. Schamgefühle können eine Rolle spielen, man will nicht zur untersten, stigmatisierten Schicht der Gesellschaft gehören. Ein weiterer Grund, keine Sozialhilfe zu beanspruchen, können drohende ausländerrecht­liche Massnahmen sein. Selbst wer rechtmässig Sozialhilfe bezieht, kann eine Aufenthalts­bewilligung verlieren oder im Aufenthalts­status zurückgestuft werden.

ZvS Oft ist auch die Hoffnung da, dass man doch noch einen Job findet und die Abhängigkeit vom Staat verhindern kann. Lieber verschuldet man sich vielleicht noch ein scheinbar letztes Mal.

AH Für viele Menschen sind ausserdem die Hürden, dass ein Antrag auf Sozialhilfe überhaupt bearbeitet wird, zu hoch. Es können verschiedenste Dokumente verlangt werden, zum Beispiel ein Strafregisterauszug oder die Konto­auszüge der letzten sechs Monate im Original. Mit der Beschaffung dieser Papiere können Monate verloren gehen.

Wenn Menschen nur Sozialhilfe beziehen können, sofern sie ihr Vermögen ganz oder weitgehend aufgebraucht haben, finden sie sich in einem Feld widersprüchlicher gesellschaftlicher Werte wieder. Uns allen wird gesagt: Ihr seid selbst für euch verantwortlich, spart, legt Geld zur Seite! Und in dem Moment, wo eine Person in der Sozialhilfe ist, darf sie nicht mehr sagen: Ich brauche aber noch Geld für die Zeit nach der Sozialhilfe, ich will dann wieder für mich selber sorgen können.

AH Sie bleiben in der Abhängigkeit, auch wenn die ursprüngliche Situation überwunden ist. Vielerorts besteht ein Zwang zur Rückerstattung bezogener Sozialhilfe, sobald man leicht über dem Niveau der Sozialhilfeleistungen leben kann. Je nachdem ist man mit Wohn­eigentum in die Sozialhilfe gekommen, und die Gemeinde nimmt sich das Recht, es allenfalls zu verwerten und Geld einzuziehen. Es gibt allerdings auch Kantone, wo es keine Pflicht zur Rückerstattung gibt, höchstens wenn man zu einem grösseren Vermögen kommt. Aber oft gilt eben: Wer in der Sozialhilfe ist, generiert Schulden.

ZvS So kann eine Person, obwohl sie eine Stelle gefunden hat, in langer Abhängigkeit vom Staat bleiben, dem sie Schulden zurück­bezahlen muss. Die persönliche Freiheit ist ein­geschränkt. Alles, was über dem betreibungsrechtlichen Existenzminimum liegt, geht weg an das Sozialamt.

Die hehre bürgerliche Tugend der Selbst­sorge, des Sparens und der Vorsorge ist damit ad acta gelegt.

ZvS Ein grosses Thema ist für uns die leidige Geschichte um die Altersvorsorge, das Geld, das man ein ganzes Leben lang zwangsweise angespart hat. Verschiedene Kantone und Gemeinden waren der Meinung, dass man das Pensionskassenvermögen verwenden muss, um bezogene Sozialhilfeleistungen zurückzuzahlen. Das bedeutet, dass man als Rentner*in auf Ergänzungsleistungen angewiesen ist, also wiederum abhängig vom Staat bleibt.

Wie funktioniert dieser Mechanismus genau?

AH Eine Person hat jahrzehntelang in relativ prekären Arbeitsverhältnissen gelebt, aber nie Sozialhilfeleistungen bezogen. Sie hat sich quasi Monat für Monat ihre Pensionskassenbeiträge vom Mund abgespart mit der Aussicht, dass dieses Geld im Alter zur Bestreitung des Lebensunterhalts zur Verfügung steht. Dann verliert man seine Stelle, ist vielleicht sogar arbeitsunfähig, hat aber keinen Anspruch auf eine IV-Rente oder ist einfach verbraucht aufgrund der Arbeitskarriere, die man hinter sich hat. So landet man früher oder später in der Sozialhilfe. Dann kommt der Tag, wo man sechzig wird, das Pensionskassengut­haben ist auf einem Freizügigkeitskonto gelandet, weil man nicht mehr arbeiten kann; ­dieses Geld kann man im Normalfall fünf Jahre vor dem ordentlichen Rentenalter beziehen. Einige Sozialämter, beispielsweise im Kanton Aargau, haben die Praxis verfolgt oder verfolgen sie bis heute, Menschen zu zwingen, mit ihrem Pensionskassengeld bezogene Sozialhilfeleistungen zurückzuerstatten. Das ist eine Praxis, die das Bundesgericht zwar grundsätzlich gutgeheissen hat, aber unter Berücksichtigung, dass das Pensionskassenguthaben für das Leben im Alter zweckbestimmt ist und somit nur beschränkt pfändbar ist.

Was heisst das nun für betroffene Menschen?

AH Vereinfacht formuliert bedeutet dies, dass nicht das gesamte Altersguthaben zur Rückerstattung von Sozialhilfeleistungen eingesetzt werden darf. In einem Fall, den ich begleitete, hat das Sozialamt verlangt, dass das gesamte Freizügigkeitsguthaben von 100’000 ­Franken zur Rückerstattung von Sozialhilfeleistungen eingesetzt werden sollte. Mit unserer Unterstützung machte die betroffene Person das zuständige Sozialamt darauf aufmerksam, dass dies nicht zulässig sei, und bot an, freiwillig 25’000 Franken zurückzuerstatten. Die Gemeinde war damit nicht einverstanden und verlangte im Sinne eines letzten Angebots 60’000 Franken zurück. Letztendlich musste ein Gericht entscheiden. Dieses bestätigte, dass Freizügigkeitsguthaben nur beschränkt pfändbar sind. Als Folge davon musste die betroffene Person keinen Franken zurückerstatten.

Wer also ein juristisches Verfahren angestrengt hat, hat Recht bekommen, zumindest teilweise. Aber wer wusste das schon? Jetzt, aufgrund des Drucks auch von uns, hat der Regierungsrat des Kantons Aargau diese Pfändungspraxis in einer Verordnung explizit verboten. Es wird sich zeigen, ob dies umgesetzt wird.

Das zeigt die Brüchigkeit des schweizerischen Sozialhilfesystems. Menschen, die von staatlicher Unterstützung abhängig sind, werden von einem Topf zum anderen geschoben. Was geschieht hier genau?

AH Es gab in diesen Fällen genau dieses Argument: Die Personen könnten ja dann Ergänzungsleistungen beziehen. Die Gemeinden entledigten sich so einer Verantwortung, denn für die Ergänzungsleistungen kommen der Bund und zum Teil die Kantone auf, im ­Kanton Aargau zumindest haben die Gemeinden damit nichts zu tun. Wir beschäftigen uns seit 2014 mit diesem Thema und machten den Kanton auf diese Manöver aufmerksam. Mehr als ein Schulterzucken ernteten wir früher nicht.

Sie sprechen vom Kanton Aargau. Sieht denn Sozialpolitik anderswo wieder anders aus?

AH In der Schweiz beziehen etwa 300’000 Menschen Sozialhilfe. Es gibt 26 verschiedene Sozialhilfegesetze mit je unterschiedlichsten Verordnungen. Auch das Verfahrensrecht ist ganz unterschiedlich geregelt: In einem Kanton hat man dreissig Tage Zeit für eine Beschwerde, in einem anderen sind es zehn. In einem ­Kanton hat eine Beschwerde aufschiebende Wirkung, in einem anderen nicht. Es gibt sehr viele Gesetze für eigentlich wenige betroffene Menschen.

Der Staat spart im Sozialbereich auf Kosten einzelner Gruppen. Was hat sich da in den letzten Jahrzehnten entwickelt?

ZvS Historisch gesehen haben sich die verantwortlichen Schöpfer der Sozialhilfegesetze in den Parlamenten gefragt: Welche Leistungen braucht es in Notsituationen? Die Leistungen sollten sich in ähnlicher Höhe bewegen wie die Ergänzungsleistungen für Rentner*innen. In der Zwischenzeit sind die Ergänzungsleistungen allerdings etwa 60 Prozent höher als die Sozialhilfe, obwohl beide Leistungen dieselbe Problematik abdecken: Es geht um die Finanzierung des Lebensunterhalts. Wie konnte die Schere so stark aufgehen? Das haben wir dem politischen Druck von rechts zu «verdanken». Die Sozialhilfeleistungen wurden zu­sehends strikter reglementiert. Vor zwanzig Jahren haben sich die Sozialhilfeleistungen am Warenkorb der zwanzig Prozent einkommensschwächsten Haushalte ausgerichtet. Heute «orientiert sich», wie es schwammig heisst, die Berechnung an den zehn Prozent einkommensschwächsten Haushalten. Das bedeutet, dass Personen, die heute Sozialhilfe beziehen, relativ sehr viel tiefere Leistungen erhalten als vor zwanzig oder vierzig Jahren. Dies obwohl die Sozialhilfe immer seltener nur überbrückend gewährt werden muss; die Hälfte der Betroffenen bezieht länger als zwei Jahre Sozialhilfe. Ihre Situation ist prekärer als früher.

Weshalb wird in diesem Segment der Bevölkerung so unglaublich gespart?

ZvS Das ist rational nicht wirklich verständlich, denn in der Sozialhilfe ist vom Spar­potenzial her sehr wenig zu holen. Sie kostet in der Schweiz etwa 2,8 Milliarden Franken oder 1,3 % der Gesamtausgaben für alle Sozial­leistungen pro Jahr. Das sind nicht einmal 3,5 % aller Staatsausgaben. Wenn zehn Prozent eingespart werden, sind das 300 Millionen ­Franken. Ein Tropfen auf den heissen Stein. Es macht finanzpolitisch keinen Sinn, dort zu sparen, wo es keinen grossen Unterschied macht. Für die Betroffenen hingegen sind die Auswirkungen enorm.

Wo setzt die Politik den Rotstift an? ­Handelt es sich um eine pauschale Politik gegen Armutsbetroffene? Oder wird differenziert?

AH Es wird differenziert. Das haben wir mit der Frage der Ergänzungsleistungen für ältere Menschen bereits gesehen. Auf der anderen Seite gibt es Personengruppen, die keinen Anspruch auf Regelsozialhilfe haben, sondern etwa nur auf Asylsozialhilfe, die nochmals sehr viel tiefer liegt. Im Kanton Zürich kann jede Gemeinde die Höhe der Asylsozialhilfe selber festlegen. Am Schluss kommt die Kategorie Menschen, die nur Nothilfe erhalten.

ZvS Ein Paradigmenwechsel in der Sozialpolitik fand 2005 mit der Einführung des sogenannten Anreizsystems statt. Als Empfänger*in von Sozialhilfeleistungen ist man verpflichtet, eine Gegenleistung zu erbringen. Dafür werden Anreize geschaffen. Wer nicht alt ist, dem oder der wird implizit angelastet, dass er oder sie quasi selbstverschuldet in der Sozialhilfe ist. Es gibt deshalb mehr und mehr Auflagen und Pflichten: eine beziehungsweise irgendeine Arbeit zu suchen oder an irgendeinem Beschäftigungsprogramm teilzunehmen. Wenn man die Auflagen nicht erfüllt, werden die Leistungen im Sinne eines negativen ­Anreizes gekürzt. Wer aus unterschiedlichen Gründen nicht arbeiten kann oder wer sich ehrenamtlich im Sozialbereich oder in der familiären Carearbeit engagiert, etwa bei der Pflege eigener Kinder oder Eltern, erhält nicht mehr wie früher bestimmte Zulagen, sondern die gleichen Auflagen wie andere aufgebrummt. Im Kanton Baselland beispielsweise können neu den sogenannten Langzeitsozial­hilfebezüger*innen nach zwei Jahren die Leistungen um fünf Prozent gekürzt werden. Im Kanton Aargau ist ebenfalls eine entsprechende Volksinitiative gestartet worden.

Bedeutet dieser Paradigmenwechsel, dass die Menschen noch abhängiger geworden sind, dass sie kaum als Rechtssubjekte angesprochen werden?

AH Sie sind gezwungen, sich in prekäre Arbeitsverhältnisse zu begeben, obwohl man dadurch von der Sozialhilfe nicht wegkommt – das gilt für Beschäftigungsprogramme wie oft auch für schlecht bezahlte Jobs auf dem ersten Arbeitsmarkt. Die Sozialhilfe hat eigentlich drei Ziele: erstens die Existenzsicherung; zweitens sollen die Personen wirtschaftlich wieder unabhängig werden; und drittens geht es um die ­soziale Integration, die Personen sollen Teil unserer Gesellschaft bleiben können. Das dritte Ziel wird mit der erwähnten Politik aber gar nicht mehr verfolgt, die Mittel sind zu tief. Sozialhilfe reicht zum Überleben. Aber hinter die Frage, inwiefern die betroffenen Personen wirklich wieder in die Gesellschaft integriert werden, müssen mehrere Fragezeichen gesetzt werden.

ZvS Mit dem Paradigmenwechsel wurde in der Gesellschaft die Idee zementiert, dass Sozial­hilfeempfänger*innen eine Gegenleistung erbringen können. Wenn die Personen sich nur etwas mehr anstrengen würden, wären sie nicht in dieser Situation. Es sei sogar angenehm in der Sozialhilfe, man habe den ganzen Tag frei und könne machen, was man wolle. Die Betroffenen stehen in der Schuld. Sozialhilfe wird nicht einfach gewährt, weil Menschen arm sind. Dabei hören wir am Telefon fast immer: Ich möchte so rasch als möglich weg vom Sozialamt und mein Leben wieder selbst bestimmen können.

Sie nennen in Ihren Dokumenten immer wieder die Präambel der Bundesverfassung, «dass die Stärke des Volkes sich misst am Wohl der Schwachen». Worauf basiert der Anspruch, dass Sozialhilfebezüger*innen Menschen mit Rechten sind?

AH Basis ist Artikel 12 der Bundesverfassung: «Wer in Not gerät und nicht in der Lage ist, für sich zu sorgen, hat Anspruch auf Hilfe und Betreuung und auf die Mittel, die für ein menschenwürdiges Dasein unerlässlich sind.» So muss zumindest die Existenz gesichert werden. In den kantonalen Sozialhilfegesetzgebungen und in den Richtlinien der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe SKOS werden die Ziele der Sozialhilfe genauer definiert. Sie ist das unterste Netz im schweizerischen ­System der sozialen Sicherheit. Wenn alle Stricke reissen, muss gewährleistet sein, dass die Menschen nicht durch alle Maschen fallen und komplett in Armut versinken. Dadurch hat die Sozialhilfe auch einen gesamtgesellschaft­lichen Nutzen: Armutsbetroffene, die Anspruch auf Sozialhilfe haben, sind nicht gezwungen, ihren Lebensunterhalt aus illegalen Aktivitäten zu bestreiten. Davon profitieren folglich auch sämtliche Menschen, die keine Sozialhilfe beziehen müssen, indem sich beispielsweise alle mehr oder gefahrlos zu jeder Tageszeit in jedem Quartier bewegen können.

ZvS Der soziale Frieden kostet uns knapp drei Milliarden Franken im Jahr, das ist extrem wenig. Dafür erhält die Gesellschaft als Ganze einen unglaublichen Mehrwert. Aber vor allem ist es ein Menschenrecht, dass alle Menschen in Würde leben können.

AH Insbesondere Kinder müssen eine Perspektive haben. Sie müssen die Möglichkeit erhalten, aus der Armut herauszukommen. Kindern steht der Anspruch zu, in einer menschenwürdigen Umgebung aufwachsen zu können, eine wichtige Voraussetzung hierfür ist die finan­zielle Sicherheit. Dafür braucht es ein tragfähiges Netz und nicht zusätzlichen Druck auf das familiäre Umfeld. Die Sozialhilfe kann diese zentrale Rolle heute nur noch bedingt spielen.

Wie kann die Sozialhilfe allen Menschen zu ihren Grundrechten verhelfen?

AH Es muss sichergestellt sein, dass Personen jene Sozialhilfeleistungen, auf die sie einen Anspruch haben, so tief das Leistungsniveau sein mag, effektiv auch erhalten. Das ist eine minimalistische, pragmatische Forderung, die Umsetzung variiert aber von Gemeinde zu Gemeinde und ist heute oft nicht gesichert. Das sehen wir mit unserer Erfahrung auf der Beratungsstelle. Es braucht mehr Qualitätssicherung beim Vollzug der Sozialhilfe. Dafür braucht es mehr öffentliche Mittel, unter anderem für unabhängige Rechtsberatungsstellen. Kurz: Was im Gesetz steht, muss umgesetzt werden.

Wir fordern weiter, dass die Sozialhilfe­leistungen im Minimum auf das Niveau der Ergänzungsleistungen für Rentner*innen angehoben werden. Das Denknetz hat die Vision einer «Allgemeinen Erwerbs­versicherung plus» formuliert, welche wir unterstützen. Die bestehenden Versicherungen zusammenzunehmen und die Sozialhilfe in dieses System zu integrieren, ist ein interessantes Projekt.

Ein nationales Sozialhilfegesetz ist eine weitere Forderung von uns. Es muss verbunden sein mit einem Leistungsniveau wie bei den Ergänzungsleistungen. Es ist ein Unding, dass wir so viele unterschiedliche Gesetze haben. Die SKOS hat durchaus eine harmonisierende Wirkung, aber sie wird überschätzt.

Es ist beeindruckend, wie ihr es als Unabhängige Fachstelle für Sozialhilferechte schafft, nicht in der juristischen Beratung von Einzelfällen zu ertrinken. Denn dabei geht es immer um konkrete Menschen, um Notfälle, um konkrete Termine, das hat immer Priorität. Wie gelingt es euch, auch politische Folgerungen aus den Erfahrungen zu ziehen und euch für Veränderungen einzusetzen?

ZvS Als relativ kleine Stelle können wir im Jahr zwischen 1000 und 1500 Beratungen anbieten. Unser Anspruch besteht aber darin, dass wir über den Einzelfall hinaus eine Wirkung ­erzielen. Unser Ziel ist es, dass es uns irgendwann nicht mehr braucht.

AH Unser Kernbereich ist die Rechtsberatung. Wir könnten allerdings doppelt so viele Beratungen durchführen. Aber wir arbeiten eben auch in der Bildung, an diversen Fachhochschulen sind wir im Bereich Soziale Arbeit in Vorlesungen und Seminare involviert. Es ist uns sehr wichtig, unser Wissen und unsere Erfahrungen weiterzugeben. Wir stellen auch Ressourcen bereit, um auf die Öffentlichkeit, auf die ­Politik Einfluss zu nehmen. Wir ­wollen informieren, was im Sozialbereich läuft und was schiefläuft. Und wir wollen in ­Kontakt treten mit Entscheidungsträger*innen. ­Unseren Anteil an Veränderungen zu bemessen ist schwierig. Aber dass es beispielsweise im Kanton Aargau nun dazu gekommen ist, dass die Verordnung zur Verwendung von Freizügig­keitsguthaben von betroffenen Personen angepasst wurde, hängt wohl schon auch damit zusammen, dass wir sehr viele entsprechende Einzelfälle ­bearbeitet haben, dass wir enorme Zeit in Medienarbeit investiert und dass wir den kantonalen Verantwortungsträger*innen für die Sozialhilfe in intensiven Diskussionen unsere Argumente dargelegt haben. Die Kombination dieser Arbeitsbereiche ist entscheidend.

ZvS Entscheidend ist auch die Vernetzung. Wenn Sozialhilfegesetze revidiert werden, ging es in den letzten Jahren oft um Verschärfungen. Im Kanton Zürich oder im Kanton Baselland haben wir uns zusammen mit anderen Organisationen erfolgreich gegen solche Revisionen eingesetzt. Dabei sind wir oft federführend, weil wir die Erfahrung an der Basis haben und wissen, was die Umsetzung verschärfter Gesetze bedeuten würde. Wenn wir nur Beratungen machen würden, wären wir nichts als eine systemerhaltende Organisation. Das ist aber nicht unser Zweck.

Inwiefern verändert die Arbeit, die ihr leistet, euer eigenes Leben, euren Umgang mit Ressourcen, eure Perspektive auf diese Gesellschaft?

ZvS Ich war vorher zwanzig Jahre im Banking tätig. Meine Kund*innen bei der UBS waren reich beziehungsweise sehr reich. Da war Geld im Überfluss vorhanden. Der verschwenderische Umgang mit Geld auf der einen Seite und die prekären Verhältnisse auf der anderen ist mir sehr viel bewusster geworden. Für meine heutigen Klient*innen ist es fast überlebenswichtig, ob sie zehn Franken mehr oder weniger haben. Für mich als Ökonomin macht es keinen Sinn, dass achtzig­tausend Kinder in der Sozialhilfe leben und dass der Staat auch nur schon auf die Idee kommt, dort zu sparen. Die Schere, die zwischen reich und arm aufgeht, ist auch aus wirtschaftlicher Sicht fatal.

AH Ich bin Ethnologe, habe aber auch einmal bei der UBS gearbeitet. Als Ethnologe interessiert mich seit jeher, wie Recht angewendet wird, was für Faktoren relevant sind, dass Recht überhaupt angewendet wird. Es stimmt mich immer wieder sehr nachdenklich, in meinem Beruf mitzuerleben, was es heisst, in der Schweiz arm zu sein. Was Betroffene alles unternehmen müssen, dass sie gewisse Leistungen erhalten. Und dass sie dann dafür noch dankbar sein müssen und gleichzeitig jeden Tag in der Zeitung lesen, dass sie, wenn sie nur den notwendigen Willen aufbringen ­würden, aus der Sozialhilfe rausfinden würden. Ich sehe täglich, wie dieses System für jene Menschen funktioniert, die auf der untersten sozialen Stufe leben müssen. Es macht mir Angst, wie respektlos man in diesem extrem reichen Land teilweise mit Menschen umgeht, die nichts mehr haben, die am Ende sind. Wie menschenverachtend man mit Menschen umgeht, die – aus welchen Gründen auch immer und fast gar nie freiwillig – arm sind.

ZvS Man spricht heute schon ein wenig anders über arme Leute als früher. Aber die Haltung ist oft noch die gleiche: der verachtende Blick auf die Unterschicht. Menschen sind angeblich selber schuld. Ein Drittel der Sozialhilfe­bezüger*innen in der Schweiz sind Kinder. Wie können sie für ihre Situation verantwortlich sein? Das ist erschütternd. Gesellschaftlich und strukturell wird kaum jemand in die Verantwortung genommen.

AH Keine Partei hat es wirklich geschafft, sich konsequent öffentlich für eine starke, wirkungsvolle Sozialhilfe einzusetzen, auch nicht die SP oder die Grünen. Auch jenseits der Parteien gibt es noch kaum tragfähige Koalitionen für die Stärkung der Sozialhilfe.

Woher habt ihr die Kraft, weiterzukämpfen?

AH Die Arbeit ist sehr spannend, ich höre immer wieder neue Geschichten, es kommt zu neuen Fallkonstellationen. Und: Wir können zusammen mit Armutsbetroffenen in manchen Fällen Erfolge feiern – für einzelne Personen, aber auch bei gewissen strukturellen ­Prozessen. Manchmal ist es sehr einfach, Erfolge zu feiern, wenn Gemeinden einfach keine Ahnung haben vom geltenden Recht. Das zeigt, dass wir nicht alles falsch machen. Die Arbeit macht Sinn. Wir arbeiten in einem tollen Team schon sehr lange zusammen und schätzen einander.

ZvS Die Arbeit ist unglaublich befriedigend – auch im Vergleich zu früher, wo ich bedeutend mehr verdiente und es allen immer gut zu gehen schien. Im Einzelfall können wir etwas bewirken, der betroffenen Person geht es vielleicht ein wenig besser. Die Menschen sind sehr dankbar, auch wenn wir den Dank gar nicht erwarten. Unbefriedigend ist es für mich, dass es in der Öffentlichkeit, sogar auch im Freundeskreis oft unmöglich scheint, die Botschaft rüberzubringen, dass in der Sozialhilfe vieles im Argen liegt. Die Sicht auf armutsbetroffene Menschen ist oft sehr negativ geprägt. Für mich ist das rational nicht nachvollziehbar. Anzukämpfen gegen solche Sichtweisen kann schon etwas frustrierend sein.●

○ Zoë von Streng, *1961, ist juristische Mitarbeiterin der Unabhängigen Fachstelle für Sozialhilferecht UFS. Sie studierte zunächst Volkswirtschaft an der Universität Zürich und arbeitete während über zwanzig Jahren im Banking. Danach hat sie noch Jura studiert und ist nach dem Masterabschluss 2015 zur UFS gekommen.

○ Andreas Hediger, *1977, ist Geschäftsleiter der UFS. Er studierte an der Universität Zürich Ethnologie und beschäftigte sich dabei intensiv mit Faktoren, die für die Rechtsdurchsetzung relevant sind, u. a. bei der Verfolgung von Menschenrechtsverbrechen der Zeit der argentinischen Militärdiktatur. Er absolvierte Weiterbildungen in Sozialhilfe- und Sozialversicherungsrecht. Seit 2012 arbeitet er bei der UFS, die er mitgründete.

● Unabhängige Fachstelle für Sozialhilferecht UFS: sozialhilfeberatung.ch

  • Matthias Hui,

    *1962, ist Co-Redaktionsleiter der Neuen Wege, Theologe und Mitarbeiter der Menschenrechtsorganisation humanrights.ch.