Seit Ende Mai gibt es kontinuierlich jeden Tag überall in New York Demonstrationen: Black Lives Matter! Die Ermordung von George Floyd durch die Polizei in Minneapolis hat sie ausgelöst. Bis zu dreissig Demonstrationen fanden täglich in verschiedenen Stadtteilen New Yorks statt. Über die meiste Zeit sind starke Einschränkungen der Bewegungsfreiheit in Kraft, somit bleiben die meisten Proteste lokal in den Stadtteilen. Dennoch versammelten sich jeweils Zehntausende Menschen in kraftvollen und überwältigenden Demonstrationen.
Beinahe täglich aufgesucht wurde die Villa von Bürgermeister Bill de Blasio im wohlhabenden Yorkville in der Upper East Side, nur ein paar Strassen südlich von East Harlem. Eine Forderung, die dabei immer wieder auftauchte: «Defund the police!» – Entzieht der Polizei das Geld, weil Schwarze Menschen von der Polizei getötet werden. Stattdessen sollte dieses Geld in die Gemeinschaften von Schwarzen und anderen Menschen of Color fliessen, denn diese sind strukturell benachteiligt. Ein struktureller Rassismus, der nicht offen mordet, sondern langsam tötet. Diese systemische Benachteiligung zeigt sich in der aktuellen Krise aufgrund von Covid-19 und wird durch diese weiter verschärft.
Ich wohne in East Harlem, einem Quartier, das hauptsächlich von Schwarzen Menschen und Latinxs bewohnt wird – 46 Prozent haben einen hispanischen Hintergrund, mehr als 37 Prozent bezeichnen sich als Schwarze Menschen oder African Americans. Aufgrund der Geschichte von Einwanderer*innen aus Lateinamerika wird es auch als «Spanish Harlem» oder schlicht als «El Barrio» bezeichnet. Auch das «Chinese Harlem» ist Teil von East Harlem. Es grenzt im Osten an das mehrheitlich afroamerikanische Central Harlem und im Süden an die mehrheitlich weisse Upper East Side.
East Harlem ist das Quartier, das in Manhattan am stärksten vom Coronavirus betroffen war: In meinem Quartier ist jede*r dreihundertste Einwohner*in am Virus gestorben. Jede 37. Person wurde bestätigt mit dem Virus infiziert, und mehr als vierzig Prozent der Getesteten haben Antikörper entwickelt. Es ist wohl weltweit eines derjenigen Gebiete, das am stärksten unter der Pandemie leidet.
Dies ist nicht blosser Zufall, sondern das Resultat systematischer und kontinuierlicher Vernachlässigung des Gesundheitswesens in East Harlem. Eines von zwei Spitälern im Quartier, das North General Hospital, wurde 2010 wegen finanzieller Probleme geschlossen. Auch die Schliessung des zweiten Spitals wurde diskutiert, aber bisher nicht umgesetzt. Aufgrund der Unterversorgung mit Schutzausrüstungen erkrankten zu Beginn der Pandemie im verbleibenden Spital derart viele Mitarbeitende an Covid-19, dass der Betrieb nur unter Rückgriff auf Gesundheitsfachkräfte aus anderen US-Bundesstaaten sichergestellt werden konnte. Das Spital war während der Pandemie dermassen ausgelastet, dass eine zulängliche medizinische Versorgung nicht gewährleistet werden konnte: So mussten auf der Notfallstation zahlreiche Menschen abgewiesen werden. Dies schlug sich auf die Todeszahlen nieder.