Wie kommt es, dass Sie sich mit Wirtschaft beschäftigen, beziehungsweise mit Care-Ökonomie?
Adelheid Biesecker: Ich habe Volkswirtschaft studiert und war von 1971 bis 2004 Professorin für Ökonomische Theorie in Bremen. Aber warum Care? Die herkömmliche Ökonomie hat ja mit Care nichts zu tun. Ich habe als Kritikerin – ich war lange Marxistin – angefangen, das Ganze der Ökonomie in den Blick zu nehmen. Ich habe aufgehört, nur den Markt als Wirtschaft wahrzunehmen, und dann kommt man zwangsläufig zu den Care-Tätigkeiten. Mitte der 1990er Jahre war für mich klar: Care gehört zum Ökonomischen dazu.
Regula Grünenfelder: Mein Weg ist der umgekehrte – von Care zur Ökonomie. Ich bin Theologin, Fragen der Gerechtigkeit waren mein Antrieb, Theologie zu studieren. Ich habe bei Elisabeth Schüssler Fiorenza über Kriegsrhetorik promoviert, über rhetorische Strategien, die Ungerechtigkeit plausibel machen. Am Ende meiner Dissertation wusste ich, wie das läuft, und wollte es anders machen. Ich wollte erforschen, wie rhetorische Strategien funktionieren, die Gerechtigkeit fördern. Da war der Weg zu Fragen der Ökonomie nicht mehr weit.
Was stimmt nicht in der Logik der herrschenden Ökonomie? Wie schafft es die Wirtschaftswissenschaft, Theorien zu entwickeln, welche die Wirklichkeit gar nicht abzubilden vermögen?
AB: Ökonomie heute sieht nur den Markt. Das Hauptproblem des Kapitalismus liegt darin, dass es keine Beziehung zum Reproduktiven gibt. Das, was wir in der Care-Debatte hereinholen – die abgewertete, unbezahlte Arbeit, die wesentlich von Frauen geleistet wird, und auch die Regeneration der Natur –, fehlt im Denken der kapitalistischen Akteur*innen. Da geht es um Maximierung von Profit, das Ausgegrenzte wird masslos ausgebeutet. Es gibt in der ökonomischen Theorie keinen Gedanken hin zur Wiederherstellung des Vernutzten. Insofern kann Kapitalismus nicht zukunftsfähig sein. Deshalb sprechen meine Kollegin Uta von Winterfeld und ich von Externalisierung als Prinzip. Der Kapitalismus braucht diese Basis, sie wird nicht bezahlt, kommt nicht in die Kostenkalkulation. Die Naturschäden, die vielen sozialen und ökologischen Schäden, die vielen Gerechtigkeitsfragen – das ist alles Ergebnis dieser Art Ökonomie.
In welchem historischen Moment ist die Sache aus dem Ruder gelaufen?
AB: Der ungarische Wirtschaftshistoriker und -wissenschaftler Karl Polanyi spricht von einer disembedded economy: In der Zeit von 1500 bis 1800 entwickelt sich ein eigener ökonomischer Handlungsraum, abgetrennt vom Sozialen und vom Ökologischen. Die ökonomische Theorie beginnt mit Adam Smith 1776, mit seinem Buch Der Wohlstand der Nationen. Vorher verfasste er die Theorie der ethischen Gefühle. Er definiert Arbeit als Erwerbsarbeit und Ökonomie als Analyse des Marktes. Er sagt aber ausdrücklich, dass Marktakteur*innen eine Art Moral brauchen. Wo kommt die her? In seiner Vorstellung der viktorianischen Familie, wo alles heil, nett und schön ist, sorgen die Frauen dafür, dass die Akteur*innen moralisch aufwachsen und sozusagen mit dieser Moral an den Markt gehen. Dieser Aspekt des Denkens von Adam Smith geht in der weiteren Geschichte verloren. In der ökonomischen Theorie wird die Trennungsstruktur zwischen Moral und Wirtschaft immer weiter gefestigt. Adam Smith ist gewissermassen der erste Theoretiker des Kapitalismus. In seiner Theorie sind die Akteur*innen unabhängig von Kirche und Feudalherren, alles ist machbar durch Arbeit. Das ist erst einmal emanzipatorisch. Es wird schnell anders, wenn es heisst: Es wird alles machbar durch Arbeit anderer, wenn der Kapitalist Arbeitskräfte kauft, für sich arbeiten lässt und ausbeutet.
Damit sind wir bei Karl Marx. Beinhaltet seine Theorie der Produktion unter kapitalistischen Verhältnissen nicht bereits auch Elemente von Reproduktion? Und haben nicht Rosa Luxemburg oder später die sogenannten Bielefelderinnen als Marxistinnen den Weg für die Fragen der heutigen Care-Ökonomie bereitet? Du hast erwähnt, dass du Marxistin warst.
AB: Wenn ich sage, ich war Marxistin, dann denke ich, dass wir historisch inzwischen weiter sind. Marx hat keine Theorie gemacht, die für alle Zeiten gilt. Insofern bin ich nach wie vor Marxistin, da meine Kritik am Kapitalismus auf Marx basiert. Aber er hatte nicht die ganze Reproduktion im Auge, sondern nur die Reproduktion des Kapitals. Rosa Luxemburg sah, dass der Kapitalismus die Sphäre des Nichtkapitalistischen braucht, und schaute auf die Reproduktion. Rosa Luxemburg ist die Basis der späteren feministisch-ökonomischen Theorie. Marx war Kind seiner Zeit, er war Kritiker der damaligen politischen Ökonomie, aber er hatte nichts zu tun mit der Emanzipation von Frauen. Die ökonomische Theorie nimmt zur Situation der Frau keine Stellung, bis die Neoklassik in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts den Haushalt als eine kleine Fabrik in ihre Theorie integriert: Die Eltern sind die Investoren, und die Kinder sind die Haushaltsendprodukte oder Investitionsgüter.
Die Frauen leisten weltweit den Löwenanteil der unbezahlten oder schlecht bezahlten Care-Arbeit. Wie wichtig ist der Feminismus für die Care-Bewegung oder für eine neu gedachte Ökonomie, die eben nicht den Konsum, sondern die Bedürfnisse von Menschen ins Zentrum rückt?
AB: Feminismus heisst, methodisch vom Ausgegrenzten her zu schauen, also die Perspektive zu wechseln. Das Ausgegrenzte, von dem das Ganze der Ökonomie in den Blick genommen werden soll, ist die unbezahlte Arbeit und auch die Natur. Weil das sonst niemand macht, braucht es auch in der ökonomischen Theorie Feminismus.
RG: Es geht um einen Perspektivenwechsel. Bei Wirtschaft ist Care reden wir nicht über die Aufwertung des Care-Sektors, sondern wir denken darüber nach, wie die ganze Wirtschaft wieder zu ihrer ursprünglichen Bestimmung zurückkehren kann: Sie muss Bedürfnisse befriedigen, also Care sein! Wieso gibt es in Coronazeiten Applaus für Care-Arbeitende, aber Geld für Lufthansa und Swiss?
Was genau ist das Neue an Wirtschaft ist Care? Weshalb greift ihr an der Frauen*synode 2021 dieses Konzept und diesen Slogan auf?
RG: Es ist nicht neu. Wir knüpfen an Gedanken und Forderungen der feministischen Ökonomie an, die es schon lange gibt, und gehen einen Schritt weiter: Wir denken Ökonomie als Wissenschaft von der Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse her. Die herrschende Ökonomie nimmt nicht wahr, in welchen Widersprüchen die eigene Wissenschaft betrieben wird. Die Frauen*synode ist ein Vehikel, um eine breite Öffentlichkeit zu erreichen und die Wahrnehmung zu schärfen, dass das Unbehagen an der herrschenden Ökonomie berechtigt ist.
AB: Wirtschaften heisst in der vorherrschenden Ökonomie Effizienz. Die Ökonomie sieht die Bedürfnisse in der Nachfrage am Markt. Sie hat im Grunde gar keinen Bedürfnisbegriff, sondern fokussiert auf die zahlungsfähige Nachfrage. Wer kein Geld hat, ist im Grunde kein Gesellschaftsmitglied. Das hatte Marx auch schon gesagt.
RG: Unser Anspruch ist, dass wir diesen Perspektivenwechsel in verschiedenen Lebensbereichen durchbuchstabieren. Wir haben das Bild einer Kugel entwickelt, es interessiert mich, was Sie dazu denken: Stellen wir uns vor, wir würden das, was wir als gutes Leben empfinden, aus unserem Teich schöpfen und an eine Kugel anbringen wollen. Die Kugel ist das, was Sie zu Beginn den «vom Sozialen und Ökologischen abgetrennten ökonomischen Handlungsraum» genannt haben. Wir fügen alles an diese in sich geschlossene Wirtschaftskugel an und stellen fest, dass das, was wir als gut und zukunftsfähig identifizieren, immer wieder abrutscht. Und wir pappen es in Sisyphusarbeit seit Jahrzehnten wieder an …
AB: … und was zentral ist, rutscht an dieser in sich geschlossenen Kugel «Wirtschaft» immer wieder ab: Bedürfnisse, Wohlbefinden, Inklusion.
RG: Genau. Und jetzt stellen wir uns vor, dass wir alles, was da immer wieder abrutscht, zusammenfassen und in die Mitte der Kugel legen. Da gehört es nämlich hin. Diesen Vorgang wollen wir in der Frauen*synode an verschiedenen Lebensbereichen durchbuchstabieren: von der Schule über die Religion bis zum Banking und zum Welthandel.
AB: Das Bild ist spannend: Ihr holt das, was externalisiert ist, was systematisch abgetrennt wird, in die Mitte und sagt: Jetzt schauen wir von dort aus auf das Ganze. Wie können wir eine Ökonomie organisieren, die das gute Leben für alle, auch für die zukünftigen Generationen, ermöglicht? Ihr nennt dies Erhalt des Kosmos oder Erhalt der Erde, mein Begriff dafür ist Vorsorge.
RG: Wir sind uns einig, dass wir das in der Mainstream-Ökonomie Externalisierte auffangen und zurückverschieben müssen.
AB: Etwas stört mich bei eurem Bild: Die Kugel ist ja eigentlich etwas Schönes, Heiles, Rundes. Für mich ist der Markt ein eckiges Gebilde. Aber das Neue wird nicht eine Kugel oder ein Tetraeder werden, sondern es wird ein vielfältiges Neues sein. Die Akteur*innen heute sind vielfältig, da ist beispielsweise die ganze Szenerie der Solidarischen Ökonomie. Hunderte Projekte fangen im Kleinen an und machen sich auf den Weg zum guten Leben. Die Nachhaltigkeitsdebatte und neuerdings die Debatte um das Anthropozän haben deutlich gemacht, worum es geht: Produzieren darf nie auf Kosten des Reproduzierens gehen. Ich bin leider nicht gut mit Bildern, ich bin eine Theorietante. Wir müssen nach einem Bild suchen, das Unterschiede nicht gleichmacht, sondern Vielfalt zulässt. Kapitalismus kann Vielfalt nicht zulassen. Die Globalisierung bringt dieses System von uns her über die ganze Welt. Nach dem Ende des sogenannten Realsozialismus schien es ohne Konkurrenz.
Und heute?
AB: Jetzt werden mehr Stimmen laut, die sagen: Schaut euch die Zerstörung an, die ihr weltweit anrichtet! Was Stephan Lessenich die «Externalisierungsgesellschaft» nennt, Ulrich Brandt und Markus Wissen die «imperiale Lebensweise», macht deutlich, dass wir alle gross geworden sind in einer Gesellschaft, die auf der ganzen Welt hockt und sie auslaugt. Das heutige Modell ist angewiesen auf weltweite Ausbeutung. Insofern sind wir bei unserer Kritik sofort global. Die Frauenbewegungen in Afrika, in Südamerika, in Asien – wir ziehen alle am selben Strang, wenn auch von unterschiedlichen Fädchen her. Die klassischen Akteur*innen will ich aber nicht aus der Pflicht entlassen, insbesondere die Gewerkschaften. Sie sollten eigentlich unsere Kumpel sein. Aber bei der Debatte in Deutschland um die staatliche Kaufprämie für Autos sehen wir: Sie sind sich einig mit ihren Ausbeutern, wie Marx sagen würde, und beschweren sich bei der Politik, dass diese Kaufprämie nicht auch für althergebrachte, umweltschädliche Autos ausgerichtet werden soll.
Sie versuchen beide, den notwendigen Systemwandel in der vielfältigen Bewegung, wie Sie sie beschrieben haben, und in der Theorie auf den Begriff zu bringen: Mit Ihren Konzepten Vorsorgendes Wirtschaften oder eben Wirtschaft ist Care stellen Sie herkömmliche Modelle auf den Kopf.
RG: Ich korrigiere: Wir stellen das, was verkehrt ist, wieder auf die Füsse. Genau so hat es die afroamerikanische Sklavin Sojourner Truth in ihrer berühmten Rede an einer Frauenrechtskonvention 1851 in Ohio formuliert. Es geht meiner Meinung nach heute nicht darum, eine neue Metaerzählung zu finden und dafür zu sorgen, dass wir alle das Gleiche mit gleichen Worten benennen. Es geht darum, dass wir Formen finden, die vielfältigen lokalen Engagements miteinander zu vernetzen. Um mit der feministischen Literaturwissenschaftlerin bell hooks zu sprechen: Es ist wichtig, dass Schwarze Frauen sprechen, es ist auch wichtig, was sie sagen. Die verschiedenen Engagements neu miteinander in Verbindung zu setzen, ist heute möglich – nach dem grossen Schweigen nach dem Mauerfall, nach der Postmoderne mit einer Atomisierung von Widerstand. Jetzt kann sich das neu ordnen. Von der theologischen Seite finde ich dabei Elisabeth Schüssler Fiorenza wichtig, um das Gemeinsame nicht zentralistisch, nicht kapitalistisch zu denken.
AB: Im Bild wäre das also keine Kugel, sondern ein Netz, an dem wir alle knüpfen. Unser Netzwerk «Vorsorgendes Wirtschaften» hat sich 1992 in St. Gallen erstmals konstituiert. In jener Zeit ging es darum, das Konzept von Nachhaltigkeit in die Ökonomie zu integrieren. Das führte zur Ökologischen Ökonomie. Aber wieder hatten diese fortschrittlichen Kollegen den ganzen Bereich der Sorgearbeit ausgelassen. Wir kritisierten sie: Wir merken zwar, dass wir die Natur erhalten müssen, schleppen aber die geschlechtliche Struktur der Ökonomie einfach weiter mit und sehen keinen Bezug zur unbezahlten Arbeit – das kann nicht sein! Bis heute haben viele Kollegen keinen Blick dafür. Wenn wir von einem Netzwerk sprechen, sind alle gleichwertig. Die vielen Stimmen dürfen und müssen gehört werden. Es gibt kein Zentralkomitee, das sagt: Das ist jetzt das neue Modell. Beim Vorsorgenden Wirtschaften sprechen wir von drei Handlungsprinzipien: Kooperation statt Konkurrenz. Vorsorge als Sorgen für uns und andere auch in der Zukunft. Und eben die Ausrichtung auf das, was zum guten Leben notwendig ist: Was brauchen wir eigentlich wirklich?
Ist das ein Abschied vom Utopiebegriff Sozialismus?
AB: Die Gerechtigkeitsvorstellungen, die der Sozialismus entwickelt hat, sind wichtig. Aber wir gehen weiter. Es geht nicht nur darum zu sagen, dass das Privateigentum in gesellschaftliches Eigentum übergeht. Sondern es geht darum, diese neue Wirtschaftsweise zu entwickeln und dabei das Sorgende und Vorsorgende in den Mittelpunkt zu stellen. Karl Marx hat viel geleistet, ohne ihn wären wir nicht da, wo wir stehen. Wir müssen aber weiterdenken und neu handeln.
Die feministische Ökonomiedebatte ist vielstimmig: Diskutiert wird zum Beispiel über das bedingungslose Grundeinkommen, die Vier-in-einem-Perspektive von Frigga Haug und eure Arbeiten. Anscheinend müssen keine Kämpfe über theoretische Deutungshoheit mehr ausgefochten werden.
AB: Es sind Kämpfe geführt worden. Aber wir sind klüger geworden. Wir verschwenden die Kraft nicht mehr, um uns gegenseitig zu zerfetzen. Ganz egal, wo wir herkommen: Wir landen bei denselben Schlüssen, und das ist entscheidend. Ich bin jetzt 78, der Stand von Theorie und Aktion ist heute ein anderer für die jungen Leute.
RG: Dass Debatten unter uns zurücktreten, sehe ich aber nicht nur positiv. Die Entwicklung des Turbokapitalismus macht es nötig, sich zu verbinden. Da wird uns auch etwas aufgedrängt, weil es um Leben oder Sterben geht. Ich wünschte mir den Raum und die Zeit für kritische Debatten und merke gleichzeitig: Die Zeit läuft uns davon.
AB: Ich gebe Ihnen recht: Kritische Debatten sind immer nötig. Ina Praetorius zitiert in ihrem Text Wirtschaft ist Care (in Neue Wege 9.20, Anm. d. Red.) Olympe de Gouges 1793 und springt dann ins 20. Jahrhundert. Aber das Zentrale passiert doch dazwischen! Da fehlt die Kapitalismuskritik. Und doch liegen wir beim Ergebnis ziemlich dicht beieinander. Ich komme in meinem Denken immer von der Kritik her. Wenn ich verstehe, dass der Kapitalismus eben wirklich nicht zukunftsfähig sein kann, und wenn er noch so grün wird, dann merke ich: Es geht um den Perspektivenwechsel, es geht um neue Kategorien, die das Neue denken lassen. Deswegen spreche ich mit meiner Kollegin Sabine Hofmeister von der (Re)Produktivität. Damit wollen wir deutlich machen, dass es darum geht, alle Produktivitäten – von Natur, von Frauen in unbezahlter und bezahlter Arbeit, von Männern – zusammenzufassen und eine Ökonomie zu entwickeln, die gestaltet, indem sie erhält oder ihre Basis erneuert. «Wirtschaft ist Care»? Ja, Wirtschaft sollte Care sein oder sollte Vorsorge sein, aber ich brauche die Kritik, um deutlich zu machen, warum Wirtschaft heute eben nicht Care ist.
Es geht also schon auch darum, die Sache gemeinsam wieder auf den Begriff zu bringen. Ist die Vielfalt der Ansätze, ist das Netzwerk ohne Zentrum nicht gleichzeitig Stärke und Schwäche? Das System, dem wir gegenüberstehen, hat sehr wohl, zumindest unsichtbare, Zentralorgane. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass der Kapitalismus – gerade in seiner neoliberalen und postmodernen Variante – Alternativen sehr leicht integrieren kann.
AB: Da ist etwas dran. Aber für mich ist die Kraft entscheidend, die wir als Gegenkraft oder als Gegenmacht – wie Hannah Arendt sagt –, entwickeln, indem wir einfach etwas anderes anfangen zusammen mit denen, die dies wollen. Der Physiker Hans-Peter Dürr hat von zwei Spieltischen gesprochen: Am einen sitzen die herkömmlichen Spieler*innen, aber das Spiel langweilt mich. Ich mache einen neuen Tisch auf und mache ihn so spannend, dass nach und nach viele andere dazukommen, auch Akteur*innen vom anderen Tisch. Vielleicht haben wir in zwanzig oder fünfzig Jahren gemeinsame Begriffe, um die wir uns gruppieren können. Wir wissen ja gar nicht genau, was nachhaltige Gesellschaft ist. Wir wissen nur, dass der Weg dorthin bedeutet, zu lernen, wie heute zu produzieren ist, damit auch für zukünftige Generationen Natur und Soziales erhalten bleiben. Natürlich ist der Kapitalismus sehr stark im Integrieren vom Andern. Plötzlich werden bestimmte Frauen hofiert: Sie müssen an die Spitze der Wirtschaft, das wird dann Emanzipation genannt, und für die Kinder der Spitzenfrauen werden Kindermädchen aus Asien geholt. Ja, Spaltung durch Integration einiger ist eine Gefahr. Aber wir haben gar keine andere Möglichkeit, als für das Neue zu streiten!
RG: Es gibt keine alternative grosse Erzählung, die wir gegen den Kapitalismus anführen können – ausser der Sorge um das Leben. Ich erlebe aber mit der Klimastreikbewegung, wie wieder ein Bedarf an Unterstützung und an Theorie da ist. Unsere Bewegungen müssen sich öffnen, damit soziale Bewegungen nicht in Verschwörungstheorien oder in esoterische Sphären abdriften oder ins Burnout. Wir sollten Diskussionspartner*innen und Begleiter*innen sein.
AB: Ich will einhaken: Doch, wir haben eine grosse Erzählung, der Kapitalismus hat keine! Der Sozialismus war eine grosse Erzählung; er hat sich, zumindest historisch, als nicht tragfähig erwiesen, für das, was wir heute brauchen. Aber eine lebensfreundliche, naturverträgliche Gesellschaft zu entwickeln – das ist eine riesige Erzählung.
RG: Es stimmt, wir sitzen an den Feuern, wo sich diese Geschichte aufbaut. Und sie kommt aus alter Zeit. Es ist nichts Neues, wenn wir sagen: «Alle sollen genug zu essen haben.» Aber die herrschende Erzählung ist immer noch: «Das Kapital wird es richten.»
AB: Die Coronakrise hat zwei Dinge deutlich gemacht. Erstens wird es der Markt nicht richten. Das sagen heute auch konservative Ökonomen. Und zweitens wird das Zentrale in der Sorgetätigkeit geleistet. Wer bestimmt eigentlich, dass wir am Ende der Nachrichten nicht davon hören, sondern immer vom Wetter und von der Börse?
Apropos grosse Erzählungen: Wo helfen uns die Begriffe der Theologie, der Befreiungstheologie und auch der feministischen Theologie über Abhängigkeit, Angewiesensein, Geburtlichkeit in dieser Debatte, die sonst mit ökonomischen Kategorien geführt wird?
RG: Es gibt diese alten Erzählungen von Gerechtigkeit und gutem Leben. Aber wir haben in der Bibel auch Terrortexte, keine heile Welt. Wir feministischen Theolog*innen sind geübt im Lesen gegen den Strich, im Identifizieren von Unbehagen und Unrecht. Wir wissen, dass das Reich Gottes nicht einfach eine grosse Erzählung ist, von der wir sagen können: Jesus liebt uns, und jetzt ist alles gut. Das unterscheidet uns von fundamentalistischen Bewegungen. Wir sind in der Position, sozusagen den Fuss in die Tür zu dieser Tradition zu halten und sie auch materialistisch zu interpretieren. Es gibt eine Autorität im Beharren darauf, dass es sich lohnt zu kämpfen, auch ohne jede Gewissheit des Erfolgs. Wir Theolog*innen sind Hüter*innen der Schwelle zwischen dem Absoluten und dem Kontingenten, wir haben mit dem Überschiessenden, mit dem Ganzen zu tun. Hier treffen wir uns mit den Ökonom*innen, die sich für das ganze Leben interessieren, und können etwas beitragen zur Entlarvung von Götzen.
AB: Das ist spannend. Ich bin vor langer Zeit aus der Kirche ausgetreten. Aber ich habe mit kirchlichen Gruppen viele Vorträge und Tagungen gemacht. Wir sind auf derselben Linie: Wir steuern auf gutes Leben hin, auf Gerechtigkeit für die Natur und die Gesellschaft. Ich erinnere mich an eine Debatte mit Freunden in einer Kirchengemeinde in Berlin. Ich sprach vom Vorsorgenden Wirtschaften und meine Kollegin, eine Superintendentin, erklärte, was im Lukasevangelium zur Ökonomie steht. Das war unheimlich gleich! Ich sagte damals: Ihr kirchlichen Menschen habt es leicht. Ihr habt die Bibel oder ihr habt die Bergpredigt. Wir müssen uns – und da bin ich bei Habermas – darüber verständigen, was unsere moralische Basis ist. Dieses Verständigenkönnen ist für unsere Bewegungen wichtig. Verständigen heisst immer, dass wir den anderen gleichwertig behandeln. Als Ökonomin und Aktivistin wünsche ich mir von der Kirche, dass sie ihren Einfluss nützt. Sie kann viele Menschen erreichen. Die Befreiungstheologie fand ich toll damals, aber auch das, was ihr Frauen jetzt in Kirchen in der Schweiz anrichtet. Wir sind Kooperationspartner*innen auf einem Weg, den wir gemeinsam gehen.
○ Adelheid Biesecker, *1942, war bis 2004 Professorin für Ökonomische Theorie im Fachbereich Wirtschaftswissenschaft der Universität Bremen. Seitdem hält sie zahlreiche Vorträge und publiziert. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind: Geschichte ökonomischer Theorie, Mikroökonomik aus sozial-ökologischer Perspektive, ökologische Ökonomik, feministische Ökonomik und Zukunft der Arbeit. Sie ist Mitglied im Netzwerk Vorsorgendes Wirtschaften, in der Vereinigung für Ökologische Ökonomie (VÖÖ) sowie im wissenschaftlichen Beirat von Attac Deutschland.
○ Regula Grünenfelder, *1965, ist katholische Theologin und Leiterin der Fachstelle feministische
Theologie der FrauenKirche Zentralschweiz. Sie ist Geschäftsleiterin der Frauen*synode, die am
4. September 2021 zum Thema «Wirtschaft ist Care» stattfinden wird.
regulagruenenfelder.ch
*1962, ist Co-Redaktionsleiter der Neuen Wege, Theologe und Vorstandsmitglied der Schweizerischen Menschenrechtsinstitution SMRI.
*1987, Co-Redaktionsleitung der Neuen Wege.