Andernorts sind es grüne und schwarze Flaggen mit Koranzitaten, im Brasilien des neuen Präsidenten Jair Bolsonaro gelbe T-Shirts: «Gott über allem». Hass ist nicht nur erlaubt, sondern geboten. Gezielt wird auf bestimmte Gruppen, global: Homosexuelle, FeministInnen, AbtreibungsbefürworterInnen, KommunistInnen, soziale AktivistInnen, MigrantInnen, Indigene und andere Minderheiten, Jüdinnen und Juden und –hier – MuslimInnen. Das Land will man «säubern». «Gewalt begegnet man mit Gewalt.» (Jair Bolsonaro) Damit sind die Schleusen geöffnet für Kleinwaffen, für Vergewaltigung, für Folter, für die Armee. «Zuerst» kommt immer der eigene Staat. Bei den autoritär-fundamentalistischen Bewegungen in Syrien oder in Brasilien und anderswo handelt es sich, bei allen grossen Unterschieden, um verzerrte Spiegelbilder.
Abstruse Dinge erklären die selbsternannten Religions- und Medienbosse zu «Wahrheiten», auch mit Fake-News-Kampagnen. Verheissen ist das Paradies, im Himmel oder schon auf Erden. Wer auf der richtigen Seite kämpft, erhält Gottes materiellen Lohn. Jedenfalls verspricht dies die Wohlstandstheologie. «Ganz sicher ist dies eine Mission Gottes.» So Jair Bolsonaro nach seinem Wahlsieg, der auch möglich wurde durch die Unterstützung der «Universalkirche des Königreichs Gottes» mit ihren 7000 Kirchen und Megatempeln.
Der brasilianische Theologe Ronaldo Cavalcante analysiert die hypermoderne Pfingstbewegung brillant. Inmitten der Trümmer des Kapitalismus und der morschen staatlichen Institutionen kommt es zu einem grossen Schauspiel der Umkehrung: Die Welt der Politik ist für die Bürgerin, den Bürger unzugänglich, ja geradezu transzendent geworden. Die PolitikerInnen haben sich – angeblich oder tatsächlich – in ihren Tempeln der Korruption abgeschottet. Der Aufstieg in ihren Himmel ist unmöglich. In diesem Moment kommt die Religion als konkrete Gegenkultur auf die Erde. In Form der Pfingstbewegungen strukturiert und stärkt sie den von Auflösung bedrohten Alltag, vor allem in den grossen Städten. Sie schafft Familie, Arbeit, Community, Sinn. Das Heilige durchwirkt im Neopentekostalismus alle Lebensbereiche und ist allen Menschen unterschiedslos zugänglich. Und am Ende bieten diese Bewegungen gar wieder einen Zugang zur Politik: mit eigenen Parteien, vielen Abgeordneten und sogar einem «eigenen» Präsidenten. Das Religiöse ist mit voller Wucht und völlig säkularisiert zurück.
Fundamentalistische Politik – durchaus mit gemeinschaftlicher Spiritualität, Empowerment und missionarischem Elan – ist in Lateinamerika angekommen. Auch in der pfingstlerischen Spielart füllt der Rechtspopulismus ein Vakuum, geschaffen durch extreme soziale Ungleichheit und Korruption, durch Machismo und Gewalt, durch Verzweiflung und Lügen. Aber auch durch Fehler und Versagen der Linken, auch durch die Anpassung der traditionellen Religionsgemeinschaften an Macht und Markt. Dazu gehören die jahrelangen Angriffe auf die Befreiungstheologie durch den Vatikan.
Die Linke kann sich in dieser Lage nicht nicht mit Religion beschäftigen. Die Illusion, dass das Religiöse langsam absterben werde, ist auch in Brasilien geplatzt. Aber längst nicht alle AnhängerInnen populistischer Bewegungen sind fürs Leben verblendet und verloren. Die Zuflucht zu fundamentalistischen Gemeinden und rechtsextremen Parolen kann vorübergehend sein. Es geht nicht allen um Hass und Gewalt. Sondern es geht vielen um ihre Würde und um das Überleben unter prekären Bedingungen, um ihre Teilhabe an der Gemeinschaft und um die Utopie einer Gesellschaft von Gleichen.