Bei welchem Namen rufst du mich, Gott?

Ines-Paul Baumann, 6. Dezember 2020
Neue Wege 12.20

Namen geben Auskunft darüber, wer wir sind – sie identifizieren. Was aber, wenn jemand mehrere Namen trägt? Und was, wenn diese Namen eine nichtbinäre Geschlechtsidentität abbilden? Verunsicherung ist vorprogrammiert. Brüche mit der Zweigeschlechterordnung finden sich aber bereits in der Bibel.

Im Briefkasten liegen Wahlunterlagen für Frau Ines Christiane Baumann.

In der Buchhandlung wartet ein Buch auf Abholung durch Herrn Ines Baumann.

Abends auf einer Party: «Wie heisst du?» «Ines-Paul.» «Hallo Paul!»

«Wer sagen die Leute, dass ich sei?», fragte schon Jesus seine engsten Vertrauten – und seiner Namen waren mehrere. Gewöhnlich sollen Namen Dinge und Individuen identifizieren. Wenn ich also mit drei unterschiedlichen Namen angesprochen werde, bin ich dann drei unterschiedliche Individuen? Sind meine Identitäten so vorübergehend und wechselhaft wie die Namen, mit denen ich angesprochen werde? Erhalte ich Namen und Identität dadurch, dass wir Menschen uns im Miteinander unserer Unterschiede zueinander bewusst werden? Oder bestehen Unterschiede schon in mir selbst? Werden mit unterschiedlichen Namen unterschiedliche Aspekte von mir benannt, repräsentiert, konstruiert und konstituiert?

In Bewegung kommen

Die Affekttheoretikerin Sara Ahmed beschreibt, dass Grenzen nicht bloss abgrenzen, sondern auch formen und prägen. Das kommt meinem persönlichen Empfinden recht nah. Zum einen entstehen in unterschiedlichen Begegnungen ja tatsächlich unterschiedliche Eindrücke – wie wenn Gebilde aufeinandertreffen und sich ihre Gestalt in dieser Begegnung verändert, weil sich ihre Oberflächen nicht nur berühren, sondern auch gegenseitig umformen. Auf ähnliche Weise, sagt Sara Ahmed, entstehen auch unsere Identitäten: also durch Begegnungen, in denen wir uns als Subjekte gegenseitig beziehungsweise miteinander ausgestalten. Wir hinterlassen Eindrücke, und wir lassen uns beeindrucken. Welchen Eindruck meine Mitmenschen von mir haben, berührt und formt also sowohl ihre als auch meine Identität. Zum anderen stosse ich ständig an Grenzen. Kein Name «passt», und wo auch andere das mitbekommen, wird es «ungemütlich».

Eine Person in weissem Kittel öffnet die Tür zum Wartezimmer und blickt sich suchend bis irritiert im Raum um: «Frau Ines Baumann??»

Am Bankschalter: «Haben Sie Ihre Karte dabei»? – «Bitte schön». – «‹Ines Baumann›? Das ist nicht IHRE Karte!», werde ich in scharfem Ton verdächtigt. – «Doch»!, sage ich fröhlich.

In der Bibel lese ich: «Eine Frau soll keine Männersachen tragen, und ein Mann soll keine Frauenkleider anziehen» (Dtn 22,5).1 In der deutschen Gesetzgebung für Namen heisst das Pendant dazu «Geschlechtsoffenkundigkeit»: Aus dem Namen soll offenkundig hervorgehen, welches Geschlecht die Person hat, die diesen Namen trägt. Ich würde mich gerne daran halten; aber dass mein Name ausgerechnet offenkundig machen soll, dass ich mich meistens nicht einer einzigen Geschlechtlichkeit zugehörig fühle, ist nicht vorgesehen. Durch die Irritation mache ich die bis eben noch so Selbstgewissen mit Vergnügen zu Verbündeten: «Vielleicht seid ihr jetzt irritiert, aber endlich sitzen wir im selben Boot – und das Boot wurde nicht gezimmert durch mein Durchbrechen eurer Ordnung, sondern ist eure Ordnung selbst. Nun trägt das Boot nicht mehr, es ist leck geworden, aber zumindest sinken wir gemeinsam.» Die Sicherheit ist weg. Wir geraten in Bewegung.

In den Namen, mit denen ich angesprochen werde, bin ich irgendwie ständig unvollständig. Jeder Name ist ein Fragment. Die Namen, mit denen ich benannt werde, sollen anderen Menschen darüber Auskunft geben, woran sie mit mir sind? Bei mir sind es gerade diejenigen, die meinen Namen zu kennen meinen, die am allerwenigsten wissen, woran sie mit mir sind. Warum fragen wir nicht öfter – sowohl Menschen als auch unsere Gottesvorstellungen: «Wie möchtest du gerade genannt werden?» Wobei ich auch dann nicht immer mit Sicherheit sagen könnte, wie ich genannt werden möchte, vor allem nicht stets und immer. Die seltsame Antwort Gottes auf diese Frage könnte ich direkt übernehmen: «Ich bin, der ich bin» oder «Ich bin, der ich sein werde» (Ex 3,14) – genau!

Performen, wiederholen, stören

Wenn Gott jeweils die ist, die sie sein wird – könnten das nicht wieder die von Ahmed gemeinten Eindrücke sein, die im Miteinander, Ineinander, Aneinander, Durcheinander, Füreinander und Gegeneinander entstehen? Wenn Gott also nicht mit einem festgelegten Namen zu fassen ist, wenn wir uns von Gott nur viele unterschiedliche und widersprüchliche Bilder machen können, wie gibt sich Gott dann überhaupt zu erkennen? Über das, was wir Gott als Worte und Taten zuschreiben? Auch diese Zuschreibungen sind ja im Wandel, wie schon die innerbiblische Entwicklungsgeschichte so schön offenlegt. Mein im Vergleich dazu kurzes Leben ist auch schon voller Widersprüche. Wenn schon ein Name und eine Geschlechtlichkeit mich nicht zusammenhalten, dann wenigstens (m)eine Lebensgeschichte? Doch was habe ich «in meinem Namen» nicht schon alles getan und gesagt, was ich mit ein paar Jahren Abstand «in meinem Namen» nicht mehr vertreten hätte!

Wenn sich (m)ein Ich also nur schwer benennen lässt, lässt es sich wenigstens situa­tiv «performen», wie es die Queer Theory beschreibt? Im Rahmen queerer Ansätze sind Identitätsaspekte wie Geschlecht performativ, das heisst, dass wir Geschlecht in unzähligen Wiederholungen täglich herstellen, betonen, konstituieren, verfestigen. Dieses Verständnis dient gerade nicht der ununterbrochenen kapitalistischen Reproduktion und der neoliberalen Auflösung sozialer Sicherheiten. Was ständig wiederholt werden muss, ist störanfällig. Und ganz wie die Störungen durch meine/n Namen schlagen Abweichungen in dieser Wiederholung dann Löcher in das Boot selbstverständlicher Ordnungen. Gleichbedeutend mit der Auflösung sozialer Sicherheiten ist die Destabilisierung von Machtstrukturen freilich nur für diejenigen, die innerhalb bestehender Machtstrukturen soziale Sicherheit erfahren – oder andersherum: deren soziale Sicherheit darin besteht, innerhalb der bestehenden Machtstrukturen Stabilität zu erfahren.

Biblisches Drag-Kinging

Dass materielle und soziale Sicherheit mit Machtstrukturen und Männlichkeit zusammenspielen, wird in patriarchal geprägten Systemen immer noch als natürlich behauptet. Beispiele dafür finden sich nicht zuletzt in der Bibel – aber auch überraschende Brüche mit Selbstverständlichkeiten. Zwei davon möchte ich anschauen. Dass Jakob sich den väterlichen Erstgeburtssegen, der mit materieller und sozialer Sicherheit einhergeht, ausgerechnet durch einen Fellmantel zur Darstellung von Männlichkeit erschleicht, ist schon fast eine köstliche erste Drag-King-Performance (Gen 27). Die Relevanz der Situation erinnert allerdings eher an den Ernst von «Passing» und Alltagstest: Der Alltag stellt trans Menschen immer wieder vor die existenzielle Herausforderung, als ein bestimmtes Geschlecht in der Zweigeschlechterordnung zu «passen», also «durchzugehen», nicht aufzufallen. Damit Jakob als sein Bruder durchgeht und das Erstgeburtsrecht erhält, das seine Zukunft sichert, reicht es nicht, sich nur wie sein Bruder zu nennen – auch Behaarung, Geruch und Verhalten müssen stimmen. Genauso relevant, nun aber fast spielerisch leicht (und dann doch wieder bis aufs Blut gefährlich) ist die etwas abgewandelte Wiederholung, mit der Jakob später seinerseits seinen jüngsten Sohn Josef einsetzt (Gen 37): Wieder wird die gewohnte Struktur auf den Kopf gestellt, wieder spielt ein Mantel darin eine wesentliche Rolle. Nun aber ist der Mantel ein bunter Rock, wie er in der Bibel sonst nur als Kleid einer Königstochter erwähnt wird. (Erfüllt/projiziert hier Jakob einen eigenen Traum? Vielleicht hätte der wenig behaarte, häuslich orientierte Jakob sich in seinen jungen Jahren in einem Kleid auch wohler gefühlt als in dem Fellmantel damals? Zumindest dürfte es kein Zufall sein, dass er um die Bedeutung von Accessoires zur Herstellung von Identitätseindrücken weiss!)

Dass Namen und Geschlechtlichkeiten das Ergebnis von Prozessen, vergleichenden Abgrenzungen und Zuweisungen sind, findet sich schon in der Schöpfungsgeschichte (Gen 2,21–25). Das Menschenwesen wird in dem Moment zu einzeln Mann und Frau, in dem es einen Teil von sich abspaltet, diesen Teil als «Anderes» begreift und diese Wahrnehmung durch Begrifflichkeiten kategorisiert. Die erste «Frau» und der erste «Mann» sind dies erst durch einen Prozess geworden. Dieser Prozess bestand aus der Trennung zu einer daraufhin nur männlich und nur weiblich genannten Wahrnehmungsgestalt. Sowohl zu Evas als auch zu Adams Lebensgeschichte gehört eine geschlechtliche Transition. Und in der Lebensgeschichte beider findet sich eine damit verbundene Namensänderung. Die Benennung von geschlechtlich binär auftretenden Menschen geschieht hier wohlgemerkt durch einen dieser binär auftretenden Menschen.2 Gott selbst hat in der Benennung des/der Menschen nicht nach Geschlechtlichkeiten unterschieden.3

Die Aufhebung der binären Geschlechtertrennung ist konsequenterweise Teil der eschatologischen Verheissung: In Christus sind wir weder männlich noch weiblich (Gal 3,28). Warum ist dann ausgerechnet die Taufe – mit der wir doch angeblich in diesen Christus hineinverbunden werden – der Anlass, Menschenkinder mit geschlechtlich binären Namen zu versehen?

  1. Dann lasst uns doch einfach je nach Situation
    die Klamotten (und die Namen) tragen, die zu unserem Geschlechtsempfinden in der Situation passen!

  2. Für Transgender-Menschen muss der Name im Buch des Lebens – ihr «ewige[r] Name, der nicht ausgelöscht werden soll» (Jes 56) – denn auch nicht der alte
    «Deadname» sein. «Deadnames» sind die Namen, die ihnen von anderen Menschen bei ihrer Geburt gegeben wurden und die sie abgelegt haben, weil damit ein nicht passendes Geschlecht benannt wurde. Diese Namen sind nicht bloss veraltet (als Teil einer Vergangenheit, die zur Lebensgeschichte gehört) – die
    Person, die damit benannt werden sollte, gab es nie. Im biblischen Sinne «nicht ausgelöscht» aber wird ja die Person, die es gab und wie sie Gott von Anfang an vor Augen war. Auch der jährliche Gedenktag
    für die Opfer von Transphobie (Transgender Day of Remembrance) gedenkt der Menschen mit den Namen, die sie selbst als passend für sich empfanden. Genau diese Namen, mit denen an diesem Tag derer gedacht wird, die Transphobie so gerne «ausgelöscht» sehen möchte, sind die Namen im Buch des Lebens, die Gott nicht «auslöschen» wird.

  3. Siehe auch Gen 5,2: «Am Tag, als Gott die Menschen schuf, machte sie sie als Abbild Gottes. Männlich und weiblich wurden sie geschaffen. Gott segnete sie und gab ihnen beiden den Namen Adam, Mensch,
    am Tage, als sie geschaffen wurden.»

 

Herzlich laden wir alle Interessierten ein zum Austausch über diesen Text am Montag, 14. Dezember, 19.30–21.00 Uhr (online-Meeting mit Zoom).

  • Ines-Paul Baumann,

    *1969, ist nichtbinäre_r Pastor* der Metropolitan Community Church in Köln, arbeitet in der Fachberatung Regenbogenfamilien, studiert Gender & Diversity an der Rhine-Waal University of Applied Sciences in Kleve und gibt Workshops zum Thema Queer & christlicher Glaube.