Befreie mich nicht, das mach ich schon selber!

Les Foulards Violets, 6. Mai 2021
Neue Wege 5.21

Das Kollektiv Les Foulards Violets mischt in der Westschweiz Debatten auf. Die feministischen Muslim*innen sehen ihren Kampf gegen Islamophobie als Zeichen der Hoffnung für eine egalitäre, demokratische Schweiz.

14. Juni 2019: Tausende von Schweizer Frauen sind anlässlich des Frauenstreiks auf den Strassen. In Genf sticht ein energiegeladener Umzug von etwa hundert muslimischen Frauen mit lila Kopftüchern und Turbanen aus dem bunten Menschenmeer heraus. Es ist das Kollektiv der Foulards Violets.

«Kopftuch oder nicht, das ist meine Entscheidung!», «Befreie mich nicht, das mach ich schon selber!», «Lass meinen Schleier los, du erstickst mich!» …

Die Slogans, die die Frauen bis zur Heiser­keit skandieren, ziehen viele Neugierige an. Einige gehen auf die Foulards Violets zu und stellen die Frage, die ihnen auf der Zunge brennt: «Muslim*innen und Feminist*innen, ist das nicht ein Widerspruch?» Die meisten Fragenden sind wohlwollend, nicht wenige Passant*innen reagieren aber auch offen aggressiv und bösartig. Sie fordern zum Beispiel die muslimischen Frauen auf, «nach Hause zu gehen» oder das «Symbol der Unterdrückung», den Schleier, abzunehmen …

Der Kampf gegen Islamophobie ist ein feministischer Kampf

Die Foulards Violets, ein Kollektiv von Frauen – muslimische und nichtmuslimische mit und ohne Kopftuch –, das sich mit Frauen solidarisiert, die sich für das Tragen des Kopftuchs entschieden haben, bewegte am 14. Juni 2019 die Gemüter. Es war die erste Aktion des Kollektivs im Kampf um mehr Sichtbarkeit, und es wird nicht die letzte sein. In den folgenden zwei Jahren integrierte sich das Kollektiv harmonisch ins Genfer Frauenstreikkollektiv. Gleichzeitig setzte es seine Arbeit fort, auf die verheerenden Auswirkungen aufmerksam zu machen, die die Islamophobie auf die Alltagserfahrungen, Lebensläufe und Zukunftsaussichten von muslimischen Frauen in der Schweiz hat.

Das Thema Kopftuch ist in Europa der Kristallisationspunkt, an dem ein ganzes Repertoire an Vorstellungen über Muslim*innen sichtbar wird, über die es sich einen Moment lang nachzudenken lohnt. So werden muslimische Frauen angeblich gezwungen, ein Kopftuch zu tragen und sich ihren männlichen Partnern unterzuordnen. Es scheint daher widersprüchlich, wenn eine Gesellschaft die Gleichberechtigung der Geschlechter verteidigt und zugleich das Tragen des Hijabs, des Kopftuchs, toleriert. Viele Politiker*innen, sowohl von rechts wie von links, positionieren sich daher unter dem Vorwand der Befreiung gegen die Präsenz von muslimischen Frauen mit Kopftuch in Beruf, Bildung und Sport. In der Schweiz stimmte das Volk kürzlich mit einer sehr knappen Mehrheit für ein Verbot der Gesichtsverschleierung im öffentlichen Raum. Tatsächlich zeigt aber die Erfahrung, dass Debatten um den Schleier weit davon entfernt sind, muslimische Frauen zu befreien, sondern vielmehr konkrete negative Auswirkungen für diese haben.

In unserem Land, wie auch anderswo in Europa, sind islamfeindliche Diskriminierung und Gewalt ein stark geschlechtsspezifisches Phänomen. Zum einen in quantitativer Hinsicht, da nach den Zahlen des Berichts Forgotten Women des Europäischen Netzwerks gegen Rassismus (ENAR) aus dem Jahr 2016 ein Grossteil (je nach Land bis zu 90 Prozent der Fälle) der islamfeindlichen Gewalttaten muslimische Frauen betrifft, insbesondere solche, die das Kopftuch tragen. Zum anderen auch in qualitativer Hinsicht, denn rechtlich gesehen beruht eine ganze Reihe von Diskriminierungen gegenüber Menschen muslimischen Glaubens auf Verboten, die speziell die Kleidung von Frauen betreffen (Kopftuch, Burka, Burkini, um nur einige Beispiele zu nennen). Französische Studien (Kawtar Najib, 2019) zeigen, dass die Mehrzahl der islamfeindlichen Angriffe gegen muslimische Frauen in öffentlichen Einrichtungen wie Kranken­häusern, Rathäusern und Schulen stattfinden; diese Angriffe nehmen ständig zu, da sich die Täter*innen durch den muslimfeindlichen politischen Diskurs in ihrem Vorgehen ermächtigt und legitimiert fühlen.

Angesichts dieser Situation haben sich muslimische Frauen in Europa mobilisiert, um ihre Rechte zu verteidigen. Es ist zu betonen, dass dieser Aktivismus, obwohl immer lebendig und engagiert, lange Zeit an den Rand gedrängt wurde, einerseits von muslimischen religiösen Organisationen, die sich ein Redemonopol für muslimische Gemeinschaften anmassten, und andererseits von feministischen Mainstream-Organisationen, in denen die Dekonstruktion der kolonialen Vorurteile eines «universalistischen» Feminismus auf starken Widerstand stiess. Beides führte dazu, dass die Stimmen muslimischer Frauen zum Schweigen gebracht wurden.

Diese Vereinnahmung der Sprache durch andere Feminist*innen erleben muslimische Frauen als eine besonders bösartige Art von Gewalt, denn sie beruht auf einem beleidigenden Vorurteil: dass muslimische Frauen nicht die intellektuelle Fähigkeit hätten, selbst zu entscheiden; dass sie ewige Kinder wären, die unter Bewachung gestellt werden müssten; dass sie nicht über die nötige Hellsichtigkeit verfügten, um ihre eigenen Körper zu befreien. Aus diesem Negativbild der unterwürfigen muslimischen Frauen erwachsen dann die bedrohlichen Konturen eines modernen Schreckgespenstes: das des muslimischen Mannes, von dem angenommen wird, dass er gewalttätig, manipulativ und unfähig ist, Beziehungen zu weiblichen Glaubensgenossinnen zu unterhalten, die auf etwas anderem als Zwang basieren. Diese Spannungen, die von Intellektuellen und Aktivist*innen wie Nacira Guénif-Soulimas, Zahra Ali und Hanane Karimi herausgearbeitet wurden, sind bezeichnend für die Machtverhältnisse innerhalb der als «Frauen» bezeichneten sozialen Kategorie. In vielerlei Hinsicht erinnern die Debatten, die Feminist*innen über die Stellung muslimischer Frauen innerhalb ihrer Bewegungen führen, an die Debatten über Sexarbeit, bei denen Abolitionist*innen lange Zeit glaubten, sie wüssten besser als Sexarbeiter*innen, was gut für diese sei.

Vom «sie» zum «ich»

In diesem Klima werden muslimische Frauengruppen, die für sich in Anspruch nehmen, feministisch zu sein, als «Oxymoron auf Beinen», als wandelnder Widerspruch wahrgenommen. Doch genau dieses Programm wollen Kollektive wie Les Foulards Violets in der Schweiz, Lallab in Frankreich oder Imazi-­Reine in Belgien vertreten. Aber von welcher Art von Feminismus sprechen wir genau? Die Foulards Violets zum Beispiel verstehen sich als intersektionale Feminist*innen. Intersektionalität ist ein Ansatz, der anerkennt, dass Frauen Sexismus nicht als monolithischen Block erleben, sondern dass sie sich jeweils an der Schnittstelle mehrerer Unterdrückungen befinden können (wie Rassismus, Homophobie, Transphobie, Ableismus als gesellschaftliche Bewertung von Menschen aufgrund ihrer körperlichen und / oder geistigen Verfassung, Klassismus). Die Foulards Violets kämpfen daher gleichzeitig an mehreren Fronten, von denen keine wichtiger ist als die andere. Dem universalistischen Absolutismus mit kolonialen Untertönen ziehen sie die Verteidigung der Selbstbestimmung muslimischer Frauen vor, die Förderung des Rechts, selbst Entscheidungen zu treffen, ohne durch Gewalt auf der Strasse oder institutionelle Diskriminierung sanktioniert zu werden. Die theoretischen und aktivistischen Bezüge sind vielfältig, ein besonderes Gewicht kommt dem intellektuellen Beitrag des Schwarzen Feminismus zu. Die Mitglieder des Kollektivs sind entschlossen, sich die Erzählmacht über ihre eigenen Erfahrungen wieder anzueignen, und sie erinnern uns damit unermüdlich daran, dass das, was für sie ohne sie getan wird, gegen sie getan wird.

Kommen sie zu Wort, bringen die Mitglieder des Kollektivs deutlich zum Ausdruck, dass sie keinen Gegensatz zwischen ihren Identitäten als Feminist*innen und Muslim*innen sehen. Nicht nur, weil viele von ihnen gerade aus ihrem Glauben und ihrer religiösen Praxis Gründe und Wege ableiten, sich für die Gleichstellung der Geschlechter einzusetzen. Sondern auch, weil viele von ihnen ihre feministischen Überzeugungen nicht durch die Lektüre von Simone de Beauvoir oder Élisabeth Badinter gewonnen haben, sondern durch konkrete Personen, die sie beobachtet haben, von denen sie sich inspirieren liessen und die für sie oft die ultimative Verkörperung der «starken Frau» darstellen: ihre Mütter. Diese mussten sich mit einer Welt auseinandersetzen, die sie ständig an den Rand drängte, die sie oft zu Haushälterinnen, Kindermädchen oder Hausfrauen machte, obwohl viele von ihnen gebildet und ambitioniert waren. Und wenn es auch unendlich viele religiöse, kulturelle und persönliche Gründe gibt, warum sich muslimische Frauen heute für das Tragen (oder Nichttragen) eines Kopftuchs entscheiden, so tritt doch oft ein Anliegen besonders in den Vordergrund: Das Verbot, ein Kopftuch zu tragen, wird als Anordnung verstanden, es nicht den Müttern gleichzutun, sondern sich an ihren Arbeitgeber*innen zu orientieren, um das Recht zu haben, als vollwertige Bürger*innen anerkannt zu werden.

In einer Studie über die Foulards Violets, die von der Fakultät für Theologie und Religionswissenschaften der Universität Lausanne durchgeführt wurde, kommt der junge Forscher Sébastien Dupuis zum Schluss, dass «zwischen diesen beiden Bestandteilen ihrer vielfältigen Loyalitäten eine Beziehung der Kontinuität besteht. Durch ihr kulturelles und religiöses Gepäck, aber auch durch die familiäre Sozia­lisation haben sich diese Frauen als aktive Subjekte konstituiert, die sich gegen Diskriminierung und gesellschaftspolitische Ungleichheiten aufgrund des Geschlechts wehren. In diesem Sinne setzen ihre feministischen Kämpfe das Kontinuum ihrer Religiosität fort. In dieser Perspektive […] überwindet ihre Selbstidentifikation mit einem Feminismus, der nicht mit ihrer Religion bricht, sondern a contrario aus ihr hervorgeht, de facto die angebliche Unvereinbarkeit von Feminismus und Islam.»

Eine starke feministische und antirassistische Front ist möglich

Im Rahmen der Kampagne gegen die sogenannte «Burka-Verbot-Initiative» haben die Foulards Violets stark zivilgesellschaftlich mobilisiert. Sie weigerten sich, das Redemonopol allein den politischen Parteien zu überlassen. Als sich die SVP auf sicherem Terrain wähnte, stellte dieses kleine Kollektiv ohne finanzielle Mittel, aber mit viel Energie die Medienlandschaft der Westschweiz auf den Kopf, indem es Nuancen und konkrete Fakten in die Debatte einbrachte. Unterstützung erhielt das Kollektiv von feministischen, antirassistischen und queeren Grundrechtsorganisationen. Dank ihren Stimmen, die von den Verbündeten des Frauenstreiks verstärkt wurden, erodierte der Ja-Stimmen-Anteil der Initiative kontinuierlich. Die erste Lehre aus den Ergebnissen vom 7. März – der Nein-Anteil von 48,8 Prozent kann als Achtungserfolg gewertet werden – ist, dass die Allianz aus Feminismus und Antirassismus das Potenzial hat, eine wichtige politische Kraft in der Schweiz zu werden. Der hasserfüllten Rhetorik der extremen Rechten ausgesetzt zu sein, ist kein Schicksal, das wir akzeptieren müssen.

Im Kampf gegen die Islamophobie, wie er von den ersten Zielscheiben dieses Rassismus, nämlich den muslimischen Frauen, aufgenommen wird, sehen wir ein Zeichen der Hoffnung für eine vielfältige, offene, egalitäre Schweiz, in der jede*r Platz findet, ohne stigmatisiert zu werden. Mit einem Wort: die Verwirklichung eines demokratischen Anspruchs!

○ Übersetzung: Stefanie Arnold.

  • Les Foulards Violets,

    Das Kollektiv Les Foulards Violets besteht aus muslimischen und nicht-muslimischen Frauen, die (k)einen Schleier tragen und solidarisch mit jenen sind, die sich für das Tragen (k)eines Schleiers entschieden haben.

    lesfoulardsviolets.org und facebook.com/lesfoulardsviolets