Bab Touma

Iren Meier, 1. April 2018
Neue Wege 4/2018

Frühlingsmorgen. Schon beim Frühstück im Hof des kleinen Hotels der Duft von Jasmin, Orangenblüten, Zitronenbäumen. Das leise Plätschern des Wassers vom Brunnen mitten im Hof. Arabisches Flair, orientalische Stimmung.

Es ist vor dem Krieg.

In Bab Touma, in der östlichen Altstadt von Damaskus. Das Quartier liegt hinter dem gleichnamigen Stadttor, benannt nach dem heiligen Thomas, dem Apostel. Zeugnis früher Christenheit, seit Jahrhunderten von ChristInnen bewohnt. Viele TouristInnen zieht es hierher. Altstadthäuser werden zu schmucken Boutiquehotels umgebaut. Das Quartier lebt. Der Austausch zwischen Einheimischen und Fremden ist rege.

Bab Touma kann man auch durch Rafik Schami entdecken. In seinen Büchern wird es lebendig, wenn er sich als kleinen Jungen in dieser magischen Welt beschreibt. Sein Spiel im Gewirr der Gassen, des Souks, die Gerüche der Gewürze, das Geplauder und Getratsche der Erwachsenen, die Freiheit des Kindes im damals schon autoritären Land.

Aber kann es so schön gewesen sein – lange vor dem Krieg?

Ich weiss es im Rückblick nicht mehr genau. Bilder schieben sich übereinander. Auch dunkle tauchen auf. Erinnerungen an Begegnungen mit Oppositionellen, die damals von Folter und von Haft erzählten. Menschen, in deren Augen Angst lag, Menschen, die brutale Unterdrückung erfuhren. Und doch – in der Erinnerung bleibt der Duft des Jasmin so eindringlich wie damals. Die Orangenblüten so rein in ihrer Schönheit wie damals. Und das Gefühl, als öffne sich ganz sacht die Tür zur Welt, auch dieses Gefühl bleibt. Vor dem Krieg gab es Momente, die die Menschen glauben liessen, Syrien wandle sich, das Land werde vom Westen nicht mehr länger als Aussätziger behandelt. Eine politische Dynamik bewegte die Oberfläche. In der Tiefe aber lag etwas, das von diesem ganzen Geschehen unberührt blieb.

Syrien und ganz besonders Damaskus hatten dieses Geheimnis. Ein Geheimnis, das uralte Stätten in sich tragen. Und das uns bis ins Herz erschüttern kann, wenn uns die Ahnung  streift.

Der Frühlingsmorgen dehnt sich. Es ist bald Mittag. Im Gewusel und Gewühl in den Hauptgassen mit all ihren Geschäften ist kein Durchkommen mehr. Etwas abseits aber liegen die Gassen still. Ungestörtes Flanieren durch die Damaszener Welt. Einen Blick erhaschen in die Gärten der alten Häuser, in die Innenhöfe, zu denen sich alle Fenster und Türen hin öffnen, in der Mitte der typische Springbrunnen. Welch eine Architektur! Welch eine Schönheit!

Es ist vor dem Krieg.

Die Stille wird unterbrochen. Lachen. Stimmen. Schritte. Eine Gruppe von Frauen biegt um die Ecke. Meine Kollegin, die Syrerin, spricht sie an: Wohin geht ihr? Staunende Blicke. Und dann nach kurzem Zögern: Ihr könnt mitkommen, wenn ihr wollt. Und ob! Das Damaszener Leben aus der Nähe erfahren. Das Innere von Bab Touma sehen.

Es ist vor dem Krieg.

Der Tisch im grossen Wohnraum biegt sich fast. Eine syrische Tafel. Etwa zehn Frauen sind schon da. Eine vertraute Runde. Wir Fremden werden aufgenommen, als gehörten wir schon immer dazu.

Die Gruppe trifft sich jede Woche in einem anderen Haus. Eine kleine Auszeit von zuhause, von den Männern, den Kindern, dem Alltag. Alle Frauen leben in Bab Touma. Sie tauschen sich aus, besprechen ihre Sorgen, Nöte und Freuden. Und sie haben eine gemeinsame Kasse. Wenn es einer schlecht geht, schenken sie ihr etwas Schönes. Wenn eine krank ist, bezahlen sie gemeinsam die Operation. Manchmal machen sie zusammen einen Ausflug. Gelebte Solidarität. Sie stärken einander, leben Freundschaft und Gemeinschaft. Es sind ganz unterschiedliche Damaszenerinnen. Die einen haben eine grosse Familie, andere sind kinderlos. Voller Vertrauen erzählen sie uns Fremden aus ihrem privaten Leben.

Auch die Politik scheuen sie nicht. Es ist die Ära von George Bush in Washington, des US-amerikanischen Präsidenten, der die sogenannte «Achse des Bösen» erfunden hat und Syrien darauf platziert. Die Frauen von Bab Touma erleben dies als Demütigung. Fühlen sich gefangen in einem repressiven System und gleichzeitig als Opfer einer kollektiven westlichen Verurteilung. Die amerikanische Invasion im Irak liegt noch nicht lange zurück. Sie beobachten genau.

Wir hören einander zu. Am Tisch im Altstadthaus von Bab Touma. Niemand hat recht. Und niemand hat unrecht. Kein Wort überdeckt das andere. Alle bleiben sie nebeneinander stehen. Viel Raum ist zwischen ihnen. Leerer Raum.

Es ist vor dem Krieg. Keine der Frauen ahnt, was Syrien bevorsteht. Wer, was könnte Damaskus, dieser uralten Stadt etwas anhaben? Syrien, diesem Land mit der grossen Kultur und Vergangenheit?

Der Alltag ist nicht leicht. Aber sie leben ihn mit Würde. Und mit Vertrauen. Wenn sich etwas ändern würde, dann zum Besseren. Das ist ihre tiefe Überzeugung.

Auf dem Rückweg duftet noch immer der Jasmin. Und in den Gassen ist es laut. Das volle Leben. Es ist, als sei das Fremde in den letzten paar Stunden vertrauter geworden. Der Zauber dieses Ortes wirkt noch stärker als zuvor.

Dieser Tag in Bab Touma, lange liegt er zurück, hat nichts von seiner Intensität und Bedeutung verloren. Ein geschenkter Tag. Überwältigende Gastfreundschaft. Ich wollte davon erzählen, damals. Die KollegInnen in der Redaktion aber sagten: «Zu banal. – Das ist keine Geschichte.»

Das war vor dem Krieg.

«Keine Geschichte» dauerte noch ein paar Jahre. Das heisst: die Normalität, das alltägliche Leben der Frauen von Bab Touma. Dann kam der Krieg. Und seither ist Syrien jeden Tag «eine Geschichte». In den Medien. Nicht mehr banal. Sondern schrecklich grausam – interessant. Syriens Zerstörung ist selbstverständliches Thema. Der Frieden, die Solidarität waren es nicht. Vielleicht sind aus den Frauen von Bab Touma Flüchtende geworden. Vielleicht haben sie Tote zu beklagen in der Familie. Vielleicht mussten ihre Ehemänner in den Krieg. Vielleicht aber blieben sie zusammen. Und treffen sich noch immer in der alten Stadt von Damaskus. Dem Unesco-Weltkulturerbe, das gezeichnet ist von den Spuren der Gewalt und der Angst. Bei weitem nicht im gleichen Masse wie andere Orte in Syrien. Aber dennoch. Wahrscheinlich haben die Frauen einander nötiger als je zuvor. Die Gemeinschaft, so sie noch besteht, wäre der grosse Halt in diesen dunklen Zeiten. Vielleicht sind sie immun geblieben gegen das Gift des Hasses, der Verblendung. Ich denke an sie und sehe sie stark und aufrecht. Und ich höre ihr Lachen und ihr Weinen. Für mich sind sie «die Geschichte» geblieben, die die Schlagzeilen des Krieges überleben wird. Für mich bleiben sie Teil des Geheimnisses von Damaskus. Des Zaubers und der Magie dieses uralten Ortes. Wo der Jasmin nie aufgehört hat zu blühen.

In der Kolumne Alltag in ... beschreiben die Journalistin Iren Meier und die Poetry Slammerin Fatima Moumouni abwechselnd das, was sie an den Orten, an denen sie sich bewegen, beobachten - von Zürich bis in den Nahen Osten.

  • Iren Meier,

    *1955, lebt in Bern und berichtet hauptsächlich über die Türkei und den Iran. Seit 1981 arbeitete sie als Journalistin bei Radio SRF. 1992 bis 2001 war sie Korrespondentin für Osteuropa und den Balkan mit Sitz in Prag und Belgrad. 2004 bis 2012 arbeitete sie als Nahostkorrespondentin in Beirut.