Syrien und ganz besonders Damaskus hatten dieses Geheimnis. Ein Geheimnis, das uralte Stätten in sich tragen. Und das uns bis ins Herz erschüttern kann, wenn uns die Ahnung streift.
Der Frühlingsmorgen dehnt sich. Es ist bald Mittag. Im Gewusel und Gewühl in den Hauptgassen mit all ihren Geschäften ist kein Durchkommen mehr. Etwas abseits aber liegen die Gassen still. Ungestörtes Flanieren durch die Damaszener Welt. Einen Blick erhaschen in die Gärten der alten Häuser, in die Innenhöfe, zu denen sich alle Fenster und Türen hin öffnen, in der Mitte der typische Springbrunnen. Welch eine Architektur! Welch eine Schönheit!
Es ist vor dem Krieg.
Die Stille wird unterbrochen. Lachen. Stimmen. Schritte. Eine Gruppe von Frauen biegt um die Ecke. Meine Kollegin, die Syrerin, spricht sie an: Wohin geht ihr? Staunende Blicke. Und dann nach kurzem Zögern: Ihr könnt mitkommen, wenn ihr wollt. Und ob! Das Damaszener Leben aus der Nähe erfahren. Das Innere von Bab Touma sehen.
Es ist vor dem Krieg.
Der Tisch im grossen Wohnraum biegt sich fast. Eine syrische Tafel. Etwa zehn Frauen sind schon da. Eine vertraute Runde. Wir Fremden werden aufgenommen, als gehörten wir schon immer dazu.
Die Gruppe trifft sich jede Woche in einem anderen Haus. Eine kleine Auszeit von zuhause, von den Männern, den Kindern, dem Alltag. Alle Frauen leben in Bab Touma. Sie tauschen sich aus, besprechen ihre Sorgen, Nöte und Freuden. Und sie haben eine gemeinsame Kasse. Wenn es einer schlecht geht, schenken sie ihr etwas Schönes. Wenn eine krank ist, bezahlen sie gemeinsam die Operation. Manchmal machen sie zusammen einen Ausflug. Gelebte Solidarität. Sie stärken einander, leben Freundschaft und Gemeinschaft. Es sind ganz unterschiedliche Damaszenerinnen. Die einen haben eine grosse Familie, andere sind kinderlos. Voller Vertrauen erzählen sie uns Fremden aus ihrem privaten Leben.
Auch die Politik scheuen sie nicht. Es ist die Ära von George Bush in Washington, des US-amerikanischen Präsidenten, der die sogenannte «Achse des Bösen» erfunden hat und Syrien darauf platziert. Die Frauen von Bab Touma erleben dies als Demütigung. Fühlen sich gefangen in einem repressiven System und gleichzeitig als Opfer einer kollektiven westlichen Verurteilung. Die amerikanische Invasion im Irak liegt noch nicht lange zurück. Sie beobachten genau.
Wir hören einander zu. Am Tisch im Altstadthaus von Bab Touma. Niemand hat recht. Und niemand hat unrecht. Kein Wort überdeckt das andere. Alle bleiben sie nebeneinander stehen. Viel Raum ist zwischen ihnen. Leerer Raum.
Es ist vor dem Krieg. Keine der Frauen ahnt, was Syrien bevorsteht. Wer, was könnte Damaskus, dieser uralten Stadt etwas anhaben? Syrien, diesem Land mit der grossen Kultur und Vergangenheit?
Der Alltag ist nicht leicht. Aber sie leben ihn mit Würde. Und mit Vertrauen. Wenn sich etwas ändern würde, dann zum Besseren. Das ist ihre tiefe Überzeugung.
Auf dem Rückweg duftet noch immer der Jasmin. Und in den Gassen ist es laut. Das volle Leben. Es ist, als sei das Fremde in den letzten paar Stunden vertrauter geworden. Der Zauber dieses Ortes wirkt noch stärker als zuvor.