Azmapu als Philosophie der Mapuche hat vier Grundpfeiler, die das Leben der Menschen, das Land, die verschiedenen Lebewesen, die es bewohnen, und die Erde in ihren vier Himmelsrichtungen bestimmen. Sie heissen Nor mogen, Az mogen, Küme mogen und Itxofill mogen.
Das Wort Nor mogen setzt sich zusammen aus «Regeln» und «Leben» (mogen). Es geht dabei um Regeln für den Umgang mit anderen Personen, der Natur und der Gemeinschaft. Sie betreffen ganz einfache Prinzipien wie den Respekt im zwischenmenschlichen Verhältnis, aber auch die viel komplexeren des Zusammenlebens mit der spirituellen Welt.
Wer die Regeln des Azmapu nicht einhält, führt ein schlechtes Leben. In der Erzählung Retxükura beispielsweise geht es um einen Felsen mit spiritueller Macht in der Bergkette der Anden, der den Vorbeigehenden Aufmerksamkeit abverlangt: «Wer nichts mitbringt, bricht einen Zweig ab und bringt ihm den dar. Niemals geht man einfach so, ohne Gabe, vorbei. Eine Person, die nichts opfert, kann Unglück erleiden, ihr Pferd kann zusammenbrechen, und sie selbst kann Schaden nehmen.»1 Das Beispiel zeigt eine andere Art, die Wirklichkeit zu verstehen, die ein Naturverhältnis einschliesst, das Kraftorte entdecken lässt. An diesem Ort lebt ein Geist des Berges, dem man die Achtung erweisen muss. Azmapu gibt der menschlichen Existenz Richtung und Sinn, und zwar nicht ausserhalb der Mutter Erde, sondern in ihr. Das verleiht menschlichen Erfahrungen eine andere Einstellung, eine sensiblere Wahrnehmung und eine spirituellere Erkenntnispraxis der Natur gegenüber, die Wertschätzung zum Ausdruck bringt und den Willen, das Gleichgewicht der Natur nicht zu zerstören.
Im Az mogen nimmt dieses Wissen Gestalt an. Az bedeutet «Gesicht», auch «gut» und «schön», mogen ist Leben. Im Kontext von Azmapu bedeutet das eine Lebensweise, die mit dem Land der Dorfgemeinschaften eine Einheit bildet und die kulturellen Verschiedenheiten respektiert. Das kollektive Zusammenleben achtet die je besonderen Formen aller Naturwesen. Die Realität begreift es in ihrer Eigenart und Besonderheit und nicht mit fixen Universalbegriffen. Gemäss dem Az mogen ist die Organisationsform der Mapuche eine territoriale, was der Gesellschaft, der Kultur und den Familien regional verschiedene Ausprägungen gibt.
Die Territorien werden nach ökologischen Stufen gegliedert und je nach Standort von Osten nach Westen eingeteilt. So werden die am Fuss der Kordilleren beheimateten Mapuche nach der Baumart der Araukarien (Pewen) der Gegend Pewenche genannt, die Hochlandbewohner*innen Wenteche (wente, oben), die im Tiefland Naqche, jene an der Küste Lafkenche, die im Süden Williche, die Mapuche in Argentinien Puelche (die im Osten), die im Norden Pikunche. Auch wenn sie als Mapuche den gleichen Regeln folgen, hat doch jedes Gebiet sein spezifisches Az mogen. Sie sprechen die gleiche Sprache – Mapuzugun – mit derselben Grammatik, doch heisst sie je nach Region anders und weist lexikalische Variationen auf. Auch die Zeremonien sind nicht die gleichen und verwenden nicht die gleichen Symbole. So opfern die Lafkenche dem Meer, die Pewenche den Araukarien, Naqche und Wenteche verwenden den Canelo- oder Foye-Baum.
Zum Az mogen gehören die Prinzipien, die das gemeinschaftliche Zusammenleben bestimmen: Welukeyuwun (Reziprozität), Feyentun (Spiritualität), Chegen (Ganzheitlichkeit) und Kiñewun (Vereinigung), Werte, die auch den individuellen Charakter von Menschen prägen. Allerdings geht durch das Eindringen des Kapitalismus und das Aufzwingen einer anthropozentrischen und patriarchalischen westlichen Kultur zusammen mit den Praktiken des Azmapu auch das Az mogen verloren.
Das Küme mogen oder «Buen Vivir» gibt wieder, wie die Völker ihre gesellschaftliche Verbindung mit der Erde, mit dem Itxofill mogen, der Biodiversität, auffassen. In der Philosophie der Mapuche, dem Azmapu, ist es die Erde (Mapu ñuke, Mutter Erde), welche Leben, Wasser, Nahrung und Schutz spendet. Alle, die sie bewohnen, darunter auch wir Menschen, haben Gen (Spirit)2 und Newen (Kraft). Niemand zählt mehr oder weniger als die anderen, und um Küme mogen zu ermöglichen, müssen diese Kräfte im Gleichgewicht sein. Küme mogen ist ein Prinzip wechselseitiger Abhängigkeit. Das Wohl des Einzelnen und das Gemeinwohl bedingen sich gegenseitig.
Das Prinzip des Buen Vivir fügt das Ökologische, die Sorge um die Erde, mit der Ökonomie der Reziprozität und der Komplementarität von Gemeinschaft und Natur zu einem Ganzen zusammen. Dieses umfasst das Soziale, Kulturelle und Spirituelle, was ein gegenseitiges Sich-Respektieren der menschlichen Wesen unabhängig von Geschlecht, Klasse oder ethnischer Zugehörigkeit impliziert. Das alles, um Gleichgewicht und Harmonie zwischen Personen, Familien und Gemeinschaft, Völkern und Natur möglich zu machen. Es ist ein In-der-Welt-Sein im Alltagsleben, in der Aussaat und der Ernte und dem familiären Zusammensein. Eben dies hat indigene Völker zu wahrhaftigen Hütern der Erde, von Flüssen, Wäldern und Bergen, von Tieren, Pflanzen und ökologischen Lebensgemeinschaften der Natur gemacht. Das heisst, wir sind Wächter*innen des Itxofill mogen, der Biodiversität. Wo darum indigene Völker sind, da gibt es Natur und Leben. Allerdings sind unsere Gebiete durch Extraktivismus und Monokulturen verwüstet worden, die das Buen Vivir zerstören.
Wie Nina Pacari, unsere indigene Schwester und frühere Aussenministerin von Ecuador, sagt, «hat das Paradigma des Sumak Kawsay [Buen Vivir] etwas Wichtiges zur Debatte über den Klimawandel beizutragen, namentlich zu den Schäden, die er der Natur, der Pachamama, zufügt».3 Wenn die lateinamerikanischen Staaten das indigene Denken zu schätzen gewusst hätten, hätte der Klimawandel das Leben der Menschen und der Natur nicht so extrem getroffen, dass das Weiterbestehen der Biodiversität und das Leben der menschlichen Gattung infrage gestellt sind.
In der lateinamerikanischen Demokratie hat das Prinzip des Buen Vivir Einzug gehalten. Es wurde vor fünfzehn Jahren in die Verfassung Ecuadors aufgenommen und vor vierzehn Jahren in die bolivianische. Damit stellen die indigenen Völker die Relevanz ihrer Praktiken und ihrer Philosophie unter Beweis und stellen sich auch der ganzen Gesellschaft zur Verfügung, damit das Leben der Mutter Erde und unser eigenes in den Blick geraten und eine weise Antwort auf Jahrhunderte von Ausschluss und Kolonialismen gefunden werden kann.
Es ist Zeit für den Dialog und die Verständigung zwischen den Völkern, ihren Kulturen, Praktiken, Sprachen, damit eine gerechtere Gesellschaft, frei von Ausbeutung und Selbstausbeutung, aufgebaut wird und auch der Respekt gegenüber der Mutter Erde, den Frauen und den Verschiedenheiten Einzug hält. Die Praxis des Buen Vivir will, dass die ganze Gesellschaft zu ihrem Wohl findet, denn nicht nur die indigenen Völker, sondern alle Völker und Nationen müssen nach dem Buen Vivir suchen.
Das Wort Itxofill mogen enthält itxo («allseits», « ganz und gar») und mogen («Leben») und wird gebraucht, um die Interdependenz aller Leben auf der Erde anzuerkennen. «Alle Leben» meint menschliche wie auch jene, die in ökologischen Räumen als Biodiversität und Reichtum der verschiedenen Arten und Lebensformen existieren. Unterschiedliche Lebensformen stehen für die Vielfalt der körperlichen, materiell fassbaren Wesen wie auch der unkörperlichen, energetischen und spirituellen. Darum hat in der Philosophie des Azmapu alles, was ist, seinen Gen («Besitzer» oder «Beschützer»), nicht nur physisch Existierendes, auch Spirituelles, das sich als Energie im guten oder im schlechten Leben auswirkt. In diesem körperlich-unkörperlichen und materiell-spirituellen Ganzen kommen die Biodiversität und ihre Verbindung mit der Gesellschaft und dem spirituellen und geistigen Leben der Mapuche zum Ausdruck.
Itxofill mogen ist nicht auf den physischen, materiellen Bereich beschränkt, sondern zutiefst spirituell, weil es sich in seiner wechselseitigen Verbundenheit zum Guten oder Schlechten auf die Person, die Familie, die Gesellschaft und die Natur auswirkt. Deshalb ist es wichtig, dass die Menschen die Regeln des Azmapu kennen, die den Respekt vor dem Leben und das Itxofill mogen betreffen. Das entsprechende Wissen und seine Praxis ermöglichen, gut und in Harmonie zu leben. Unwissenheit bringt Ungleichgewicht.
Ein paar wenige Beispiele zeigen schon, wie unser Respekt dem Itxofill mogen gegenüber abnimmt und so den Erhalt der Biodiversität verhindert:
Flüsse, Seen, Berge, Pflanzen, Tiere und Ökosysteme werden verschmutzt und zerstört.
Arten werden ausgerottet.
Das ökologische Gleichgewicht in unseren Gebieten droht zu kippen.
Die Wirtschaft schädigt die biologische Vielfalt.
Die Konzepte von Fortschritt und Entwicklung sind schädlich für das Itxofill mogen und schädigen menschliche ebenso wie nichtmenschliche Wesen.
Die Philosophie des Azmapu verteidigt darum das Itxofill mogen und trägt dazu bei, dass die Biodiversität in der ganzen Welt erhalten werden kann.
Die Mapuche treten in ihren Zeremonien für das Itxofill mogen ein. Sie tun es aber auch mit ihren sozialen und politischen Forderungen. Denn das Zurückgewinnen von Land gibt ihnen Raum, um mit anderen zusammen eine Identität zu bilden und ein Leben zu führen, das nach Ausgeglichenheit und Harmonie mit allen Wesen trachtet, die Teil ihrer Welt und des Universums sind.
Das philosophische Konzept des Itxofill ist etwas anderes als der euro- und anthropozentrische Gesichtspunkt, der die Natur als vom Menschen ausbeutbare Ressource betrachtet, ohne ihr Eigenleben und ihren spirituellen Wert zu respektieren. Die indigenen Völker fühlen sich den anderen Naturwesen geschwisterlich verbunden, wohnen und leben mit ihnen zusammen. Sie verfügen mit der Philosophie des Azmapu über einen ethischen Kodex des Respekts, der sicherlich nicht dem ökonomistischen Prisma folgt, das einzig für den Menschen, der sich von der Natur abgetrennt hat, funktional ist.
Die Praxis der Mapuche hat eine Reziprozitätsbeziehung mit anderen Lebewesen zur Grundlage. Sie anerkennt und respektiert, dass alles, was in ihren Territorien zu Hause ist, über Gen, seinen Schutzgeist, verfügt. Alle Wesen empfinden und leben, alle sind notwendig, um Mogen, das Leben, im Gleichgewicht zu erhalten. Diese Leben und ihre Gen verfügen über Newen, spirituelle Energie, und zusammen verleihen sie den Personen und Lebewesen, die sie bewohnen, Newen. Gen zu verlieren bedeutet, das Leben im Gleichgewicht zu verlieren. Newen ist die Energie, über die das Leben und die Gesellschaft der Mapuche verfügt. Es ist die Energie jedes Itxofill mogen.
Im Jahr 1992, als das erste Mapuche-Tribunal im Consejo de Todas las Tierras4 stattfand, habe ich zum ersten Mal über das Itxofill mogen geschrieben. Bis dahin war es Teil der mündlichen Überlieferung der Mapuche. Später nahm der Dichter Elicura Chihuailaf das Thema in seinem Buch Recado confidencial a los chilenos (Vertrauliche Botschaft an die Chilenen) von 1999 auf. 2019 hat dann der Forscher und Aktivist Melín unterstrichen, dass Gemeinschaften, die ihr Land verteidigen, dies mit dem Itxofill mogen begründen.5 Die Identidad Lafkenche6 schliesslich hat 2022 einen entsprechenden Vorschlag für einen neuen Verfassungsartikel präsentiert, der aber nicht akzeptiert wurde. Nur ein Artikel zum Buen Vivir blieb im Vorschlag für die neue Verfassung, die dann abgelehnt wurde.
Um das Itxofill mogen wirklich zu fördern und zu schützen, braucht es eine Art Regierung der Erde. Die indische Ökofeministin Vandana Shiva hat eine Erddemokratie vorgeschlagen. Wir sprechen in unserer Sprache, dem Mapuzugun, von Mapu günewtun, einer Erdregierung, die alle Lebensformen von Itxofill mogen zu schützen und für das Gleichgewicht und die Interdependenz aller Naturwesen zu sorgen hat. Eine Regierung der Erde, die dem Artensterben Einhalt gebietet, und eine Demokratie, welche die Natur und Itxofill mogen als ein Subjekt mit Rechten mitsamt seinen Gen und seinem Reichtum an Interdependenz auffasst – eine solche Regierung der Erde fände Rückhalt und Unterstützung in unserer Philosophie des Azmapu und des Itxofill mogen.●
Der von Beat Dietschy aus dem Spanischen übersetzte und leicht gekürzte Text stammt aus dem Abschnitt Los cuatro pilares del azmapu ihres Buches Azmapu. Aportes de la filosofía Mapuche para el cuidado del lof y la Madre Tierra (Santiago de Chile 2023, S. 61–70).
Rodolfo Lenz: Estudios araucanos. Santiago de Chile 1897, S. 424.
Alle Naturwesen haben eine doppelte Qualität, eine physische, sichtbare, und eine spirituelle, unsichtbare, die als Gen bezeichnet wird. Gen bedeutet «Besitzer» in dem Sinne, dass er den Wald oder Fluss oder Berg, den er bewohnt, beschützt und erhält: «Eine Wasserpfütze trocknet nicht aus, solange ihr Besitzer da ist» (Zitat aus Maria Catrileo: Diccionario Lingüístico-etnográfico de la lengua Mapuche. Santiago de Chile 2017, S. 231; Anm. d. Übersetzers).
Nina Pacari u. a.: Proceso Constituyente y Buen Vivir a 15 años del inicio de la Asamblea Constituyente 2007–2022. Quito 2021, S. 21.
Der Consejo de Todas la Tierras («Rat aller Länder») ist aus Gegenkampagnen zur Feier der 500 Jahre «Entdeckung Amerikas» hervorgegangen. Ihr gehören über 300 Dorfgemeinschaften an, die für ihre Landrechte und Selbstbestimmung eintreten (Anm. d. Übers.).
Miguel Melín Pehuén ist Professor am Institut für indigene und interkulturelle Studien der Universidad de La Frontera in Temuco, Mitglied der Organisation Alianza Territorial Mapuche und Mitautor des Buchs Mapu Chillkantukun Zugu. Descolonizando el mapa del Wallmapu, construyendo cartografía cultural en territorio mapuche. Temuco 2019 (Anm. d. Übers.).
In den 1990er Jahren entstandene Organisation von Mapuche-Gemeinden in der Küstenregion des Golfs von Arauco (Anm. d. Übers.).
*1963, ist Sprachwissenschaftlerin, Professorin an der Universidad de Santiago de Chile, feministische Aktivistin und Aktivistin für indigene Völker und ihre Sprachen. Über die Landesgrenzen hinaus bekannt wurde ihr Name, als sie, eine Mapuche, am 4. Juli 2021 zur Präsidentin des Konvents für eine neue Verfassung Chiles gewählt wurde. Diese hätte Rechte der Natur, die Anerkennung indigener Völker, ihrer Kultur und Landrechte enthalten und Chile zu einem plurinationalen und interkulturellen Staatswesen gemacht. Für die konservative Mehrheit im Land war dies ein zu grosser Schritt auf dem Weg der Dekolonialisierung ihrer Gesellschaft. Sie lehnte 2022 diesen Verfassungsvorschlag ab.
Dr. phil, *1950, ist Philosoph, Theologe und Publizist. Er promovierte über Ernst Bloch, arbeitete als Journalist in Laterinamerika und war Geschäftsführer der Hilfsorganisation Brot für alle. Er engagiert sich u.a. bei Comundo und ist Mitglied der Neue Wege-Redaktion.