Authentizität ­– der Glaube macht’s

Lukas Zapf, 6. Januar 2020
Neue Wege 1/2.20

Was «echt» ist, verkauft sich gut. Der Geist des (digitalen) Kapitalismus leistet ganze Arbeit: Er beeinflusst unsere Wahrnehmung von Produkten und generiert eine eigene Art der Authentizität.

Wie «echt» ist ein deutsches Dorf in einem Disney-­Park? Wie «echt» ist der Sound, der aus dem vorbeifahrenden Sportwagen kommt? Diese Fragen stellen sich, weil es der Wirtschaft gelingt, eine eigene Art der Authentizität zu generieren. Sie organisiert nicht nur unseren Austausch, sondern beeinflusst auch, was für «echt» und damit wünschenswert gehalten wird. Die Wirtschaft steuert unsere Wahrnehmung.

Das Thema «Authentizität» ist im Verkaufsprozess zentral, da ein authentisches Produkt mit Ursprung, Qualität und damit Wertschätzung verbunden wird. Also entwickeln Unternehmen eine Geschichte zu ihren Produkten, welche die Konsumentinnen und Konsumenten die Authentizität eines Produktes glauben lässt. Die Geschichte lenkt Erwartung und Erleben der Verbraucherinnen und Verbraucher. Eine Beziehung zu Unternehmen und Marke entsteht, sogar Vertrauen. «Glauben» und «Vertrauen»: Metaphysische Attribute mitten im Vertrieb.

Diese Überlegungen stützen sich auf zwei bekannte Vorgänger. Zum einen steht Marxens These vom Fetischcharakter der Waren: Karl Marx beschreibt die Kapazität von Produkten, über ihren Gebrauchswert hinaus Eigenschaften anzunehmen, in denen sich gesellschaftliche Verhältnisse und Vorstellungen widerspiegeln. Die Ware ist nicht nur Produkt, sondern wird «gesellschaftliche Hieroglyphe». Sie enthält verschlüsselte Botschaften, die Wertverhältnisse transportieren. Die Marktwirtschaft verleiht ihren Produkten «metaphysische Spitzfindigkeiten und theologische Mucken». Produkte, für die eine eigene Authentizität hergestellt wird, beschreiben die Kapazität von Waren für eine soziale Wirksamkeit ganz im Marx’schen Sinne. 

Zum zweiten steht die Polemik von Guy Debord, nachdem der Kapitalismus jedwede authentische menschliche Erfahrung in eine Ware verwandelt hat und ununterbrochen versucht, uns diese zu verkaufen. Debord nennt diesen durch Werbung und Massenmedien befeuerten Mechanismus die «Gesellschaft des Spektakels», die jeden Lebensbereich umfasst und die Welt irreal werden lässt. Dem marktwirtschaftlichen System wohnt die Kraft inne, vermittels seiner Produkte eine eigene Wahrnehmungswelt zu generieren. Innerhalb dieser Wahrnehmungswelt geht es hier um den Aspekt der Authentizität von Produkten.

Authentizität als Gütekriterium

Authentizität ist ein vielschichtiger Begriff. Etymologisch kommt er aus dem Griechischen und bedeutet «echt» oder «verbürgt», eine Beziehung zum Urheber, zur Urheberin oder der ursprünglichen Idee eines Dings aufweisend. Auch wird damit der Gegensatz zur Täuschung bezeichnet. 

Authentizität bezeichnet eine positive Eigenschaft, ein Gütekriterium. Sie ist erwünscht und muss eingeworben werden. Authentizität schafft, wenn sie einmal erreicht ist, Vertrauen und ermöglicht dadurch eine andauernde und effektive (Austausch-)Beziehung. 

Authentizität entsteht (in Anlehnung an Saupe 2012) in drei Schritten durch 

1. eine persönliche Erwartung, die durch eine Beschäftigung mit dem Gegenstand entsteht;

2. das direkte Erleben des Gegenstandes und den Eindruck, den man im Umgang erhält;

3. eine allgemein bekannte Geschichte zum Gegenstand, die dessen Eigentümlichkeit transportiert.

Die Frage ist nun, wie es Unternehmen gelingt, mit einer Geschichte (3) bei Konsumentinnen und Konsumenten Erwartung (1) und Erleben (2) so zu beeinflussen, dass eine eigene Wahrnehmung von Authentizität entsteht. Das verbessert die Absatzmöglichkeiten, denn authentische Produkte haben einen Wettbewerbsvorteil.

Die Authentizitätserzeugung funktioniert grundsätzlich, weil der Aspekt der Eigentümlichkeit (3) relativ ist und nicht an einer eigentlichen Substanz zu messen ist. Dies bedeutet, dass die Eigentümlichkeit eines Gegenstandes beeinflussbar ist. Ein Unternehmen kann damit auf eine bestehende Authentizität aufbauen und diese im eigenen Sinne ummünzen – der Nachbau eines Fachwerkhauses im US-­amerikanischen Vergnügungspark Disney World bezieht sich auf einen authentischen Baustil in Deutschland, führt ihn aber in Plastik aus und verlangt Eintritt dafür. Der Bezug zu einem bekannten, ähnlichen Träger von Authentizität ist also hilfreich. Im Idealfall lässt sich aber nach der Übernahme von Authentizität zwischen dem ursprünglichen «Echten» und dem Nachbau in der Erwartung und Wahrnehmung der Konsumentin oder des Konsumenten kein Unterschied mehr feststellen. Die Konsumentin, der Konsument ist so an den Nachbau gewöhnt, dass die Illusion für das ursprüngliche Produkt gehalten wird. Aus der Lebensmittelindustrie kennt man das sogenannte «Umfruchten»: Im Cranberry-­Fruchtjoghurt werden statt Cranberries Traubenstücke eingesetzt. Weil Trauben günstiger sind und ein ähnliches Mundgefühl ergeben.

Die perfekte Imagination

Die Digitalisierung erleichtert es Unternehmen, ihre eigene Authentizität zu generieren. Digitale Produkte werden zwar erworben, sind aber nicht greifbar: Medien wie Software, Musik, Bücher oder Filme, die nur als Download verkauft werden. Es braucht keine CD in der Hand, um Musik zu hören. Man muss die Musik nicht einmal besitzen. Zum Konsum reichen der digitale Zugriff und das Smartphone aus. Man ist den Umgang mit virtuellen Produkten gewohnt. Es besteht gar nicht die Erwartung, mit einem Kauf ein gegenständliches Produkt ausgehändigt zu bekommen. 

Das erleichtert es, Authentizität zu schaffen. Weil der direkte Umgang mit dem Produkt und damit das direkte Erleben fehlt (2), kommt der Geschichte der Eigentümlichkeit eines Produktes ausschlaggebende Bedeutung zu (3). Die Geschichte wird vom Unternehmen durch entsprechendes Marketing erzählt und prägt die subjektive Erwartung der Konsumenten und Konsumentinnen (1). 

Die vom Unternehmen präsentierte Geschichte funktioniert als Träger von Authentizität deshalb so gut, weil die Eigentümlichkeit, wie oben festgestellt, relativ ist und dadurch beeinflussbar. Man muss gar nicht unbedingt wissen, wie sich ein echter Achtzylinder anhört, wenn man sich dank des Zusammenspiels von digitalem Soundgenerator und Werbebotschaft an die perfekte Imitation gewöhnt hat.

Authentic Disney und Audi-Soundgenerator

Zwei Beispiele veranschaulichen den abstrakten Prozess, mit dem Unternehmen Authentizität generieren.

Bei einem Besuch im Disney-Vergnügungspark Epcot in Florida stand ich vor dem Eingang zum German Pavilion. Dieser ist Teil des World Showcase, in dem Besucherinnen und Besucher verschiedene Kulturen erleben. Dazu gibt es Restaurants (Schnitzel), entsprechend ausgestattete Läden (Kuckucksuhren) und Fahrgeschäfte. Die Fassade des Baus ist eine Mischung aus Fachwerk und Ritterschloss, Schieferdach und Geranien, bei genauerem Hinsehen geformt aus Hartplastik. Alle Vorurteile über eine Kultur werden in zwei Minuten erlebbar gemacht. Die Designer des Parks übernehmen die geteilte Geschichte der Besucherinnen und Besucher (Stereotype zu «Good Old Germany») und machen ein eigenes Konsumerlebnis daraus. Disney schafft es, bei Konsumentinnen und Konsumenten die Erwartung und das direkte Erleben einer fremden Kultur so zu rahmen, dass die Illusion eines Deutschlandbesuches entsteht.

Und Disney setzt noch einen drauf: Beim Blick auf das Sortiment des Souvenirstandes vor dem Plastik-Deutschland entdecke ich eine Tasse, aufgedruckt ein grosser Mickey-Kopf. Darauf in stolzen Lettern geschrieben: AUTHENTIC DISNEY. Raffiniert: Hier wird in einer Umgebung, die für den aussenstehenden Beobachter, die Beobachterin, in jedem einzelnen Aspekt das Gegenteil von Authentizität ausstrahlt, eine eigene Geschichte dagegengehalten: Die Disney-Interpretation der Eigentümlichkeit «deutscher Kultur» in Form von Plastik-Fachwerk, glaubwürdig gemacht durch die Authentizität der eigenen Marke («Authentic Disney»).

Ein zweites Beispiel: Der Audi-Soundgenerator. Weil moderne Motoren sparsam und leise sein sollen, entfällt ein wichtiges Merkmal – ihr Sound. Die Fahrzeughersteller reagieren. Mittels Lautsprecher in der Nähe der Endschalldämpfer, sogenannten Soundaktoren, werden bestimmte Frequenzen des Motorgeräusches verstärkt und einzelne Aspekte hervorgehoben. Es entsteht laut Audi eine «authentische (!) Klangkulisse», die per Knopfdruck verändert oder abgestellt werden kann. Einzelne Modelle können den Sound auch nur in den Fahrgastraum leiten oder Geräuschemissionen durch Gegenschall ganz verhindern. In der Regel geht es aber um die Aussenwahrnehmung, im Audi-Sprech: «Beeindrucken Sie Ihre Umgebung» mit den Lautsprechern. Der oben genannte Dreischritt zur Authentizität findet auch hier seine Anwendung. Der Autokäufer, die Käuferin, erwartet von einem leistungsstarken Fahrzeug mit Verbrennungsmotor einen entsprechenden Sound – man erkennt seinen Lieblingsmotor schon von weitem (1). Das direkte Erleben entspricht dieser Erwartung (2). Der Sounds selbst kommt zwar aus dem Lautsprecher, imitiert aber im Ton die aufwendige und kunstvolle Mechanik, die Krümmung von Abgasrohren, Klappen und Windungen und referenziert damit den eigentümlichen und bekannten Verbrenner-Sound (3).
Audi muss den Motorensound aufgrund der leisen, modernen Motoren reformulieren. Und verkauft der Kundschaft deswegen gegen Aufpreis ein Imitat als authentische Klangkulisse.

Solange man daran glaubt

Vertrauen und Glauben in und an Marken machen es Unternehmen möglich, Produkte mit einer eigens aufgelegten Echtheit auszustatten. Der Kapitalismus schafft ein authentisches Erlebnis, wobei dieses nicht auf der Eigentümlichkeit des Produktes beruht, sondern durch eine entsprechende Geschichte geformt und mit Design gewährleistet wird. Die Erwartungen an das Produkt richten sich danach. Weil mit der Digitalisierung vermehrt Produkte angeboten werden, die man nicht direkt erlebt, sondern nur virtuell nutzt, verstärkt sich dieser Effekt. Die Geschichte, die um ein Produkt erzählt wird, gewinnt an Bedeutung und formt das Erleben der Konsumentinnen und Konsumenten.

Offen bleibt freilich, ob diese Prozesse bewusst betrieben werden: Bauen die Disney-­Manager und -Managerinnen in ihrem Park bestimmte Plastikhäuser, um die Verkäufe im Shop anzukurbeln? Will der Autohersteller, dass der künstliche Motoren-Sound den Verbrenner-Sound ersetzt? Falls ja, wäre es brillantes Marketing. Oder handelt es sich um einen emergenten Effekt, der durch das Ineinandergreifen der vielen verschiedenen Rädchen des Systems – Produktentwicklung, Innovation, Marketing – entsteht, ohne dass ein menschlicher Plan dahintersteht? Das wäre ein weiterer Beleg für die raffinierte Eigenlogik der Marktwirtschaft. 
Wie auch immer – es entstehen beeindruckende Einkaufserlebnisse. Die simulierte Weltreise (Epcot) oder der V8-Sound (Audi) betören die Sinne. Aus der Metaperspektive zeigt sich an diesem Spektakel, dass die Herstellung von Vertrauen, Glauben und Authentizität eine beachtliche Zusatzfunktion der Marktwirtschaft darstellt. Hier werden nicht nur Waren getauscht, sondern die Wahrnehmungen der Teilnehmerinnen und Teilnehmer geformt. Was echt und ursprünglich ist, wird durch eine vom Unternehmen geschaffene Geschichte beglaubigt. Erwartung und Wahrnehmung der Menschen formen sich danach. Dieses Potenzial, unter Erwerbsinteressen eine eigene Konsumwelt zu erschaffen, zeigt den sozialen Überbau unseres Wirtschaftssystems. Es ist eben mehr als die Technik des Austausches, sondern Teil der Gesellschaft. Solange man daran glaubt jedenfalls.

Debord, Guy: Die Gesellschaft des Spektakels. Berlin: Edition Tiamat 1996 [1967].

Marx, Karl: Der Fetischcharakter der Ware und sein Geheimnis. In: Marx, Karl and Friedrich Engels (Hg.): Werke. Band 23. Herausgegeben vom Institut für ­Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Berlin: Dietz-Verlag, 85–99, 1956.

Saupe, Achim: Authentizität. Clio-online 2012. https://zeitgeschichte-digital.de/doks/files/263/­docupedia_saupe_authentizitaet_v2_de_2012.pdf (17.10.2019).

○ Dieser Artikel beruht auf Überlegungen aus der demnächst erscheinenden zweiten Auflage des Buches 
von Lucas Zapf und Peter Seele: Die Rückseite der Cloud. Eine Theorie des Privaten ohne Geheimnis. Heidelberg: Springer (erste Auflage: 2017).

  • Lukas Zapf,

    *1984, ist interdisziplinärer Religionswissenschaftler und beschäftigt sich mit den Auswirkungen der Marktwirtschaft auf den Menschen. Er lehrt an der Universität Basel und der Fachhochschule Nordwestschweiz und ist als Ethical Risk Consultant tätig.

    lucas.zapf@unibas.ch