Anti-Trump-Protest: Ein langer, bitterer, doch schöner Kampf

Lotta Suter, 1. Juni 2017
Neue Wege 6/2017

Welche Bündnisse, welche Themen und welche Strategien stärken die linke Opposition in den USA gegen die rechtspopulistische Regierung von Donald Trump? Wie wird eine Politik im Interesse der Mehrheit mehrheitsfähig?

«Die Linke und das Volk», das Thema der Neuen Wege 6-7/2017, verlangt umgehend nach Klärung: Welche Linke, welches Volk? Im Fall der USA sind diese Gegenfragen jedenfalls weit mehr als eine rhetorische Figur. Sie zielen auf die historische, soziale und politische Komplexität der beiden Begriffe – und sie sind Beleg dafür, dass deren Verknüpfung jede Selbstverständlichkeit verloren hat. Die grosse Distanz, ja Entfremdung zwischen fortschrittlicher Politik und bestimmten Teilen der Bevölkerung begünstigte letzten Endes die Wahl des Rechtspopulisten Donald Trump an die Spitze der US-Regierung. Doch nun beweist der äusserst entschlossene und vielfältige Widerstand von Millionen US-AmerikanerInnen gegen den neuen selbstherrlichen Präsidenten auch, dass alte politische Verbindungen der Linken wiederbelebt und neue Bündnisse geformt werden können.

Spontaner Volksaufstand

Schon am Tag nach Donald Trumps Amtseinsetzung Mitte Januar gingen in den USA rund vier Millionen Menschen auf die Strasse. Der Women’s March war die grösste Kundgebung seit den Anti-Vietnam-Protesten der 1960er und 1970er Jahre. Und die Opposition hatte sich im Gegensatz zur damaligen Friedensbewegung sozusagen über Nacht formiert. Der Protest wurde diesmal inhaltlich und personell von Frauen bestimmt und getragen. Demonstriert wurde nicht bloss in den grossen Metropolen wie New York, San Francisco und Los Angeles, sondern in über fünfhundert zum Teil ziemlich provinziellen Städten im ganzen Land. Ein richtiger Volksaufstand! Seither ist der Protest in den USA sozusagen zum neuen Lifestyle geworden.

Viele BürgerInnen schreiben Tag für Tag Protestbriefe an Präsident Trump oder bedrängen ihre Abgeordneten im Kongress mit trumpkritischen Anrufen. Wer in den grossen Städten wohnt, verabredet sich am Wochenende mit FreundInnen zur nächsten Demo auf der Strasse oder am Flughafen. In kleineren Orten setzen Bürgerversammlungen die lokalen PolitikerInnen unter Druck. Immer mehr Städte, ja ganze Bundesstaaten werden zu Sanctuary Zones, das heisst, sie verweigern die Zusammenarbeit der örtlichen Ordnungskräfte mit der nationalen Immigrationsbehörde. Einzelne Kirchen öffnen ihre Tore für Sans-Papiers, die abgeschoben werden sollen. AktivistInnen halten Workshops zum Thema Widerstand. Sogar in Konzerten und auf Kunstausstellungen wird nun regelmässig auf die politische Lage Bezug genommen. Das kulturelle Schaffen wird als eine wichtige Form des zivilen Ungehorsams präsentiert, weil es ideologische und geografische Grenzen überschreitet. Ein sehr diverser und breiter Teil der Zivilgesellschaft in den USA widersetzt sich in der einen oder andern Form dem Versuch der Trump-Regierung, das Land in die weissen, patriarchalischen, nationalistischen 1950er Jahre zurückzuführen. Doch ist das schon ein Aufstand von links? Hört das Volk bloss Anti- Trump-Signale?

«Unsere Revolution»

Was gibt dem Widerstand in den USA Orientierung und Stärke? Was bringt den zähen Durchhaltewillen hervor, den es braucht für den unendlichen politischen Auftrag der Linken und den Martin Luther King in seiner berühmten Anti-Vietnam Rede vom 4. April 1967 als «langen, bitteren, doch schönen Kampf für eine neue Welt» beschrieb? Was hält die bunte Schar der Protestwilligen über die ersten euphorischen Politflitterwochen hinaus zusammen?

Die kürzeste, jedoch ernstzunehmende Antwort auf diese Frage heisst: Bernie Sanders. Der Ex-Präsidentschaftskandidat und sozialistische Senator aus dem Bundesstaat Vermont versucht unermüdlich und unverdrossen, die politische Energie rund um seine spektakulär erfolgreiche 2016er Kampagne in die triste Trump-Zeit hinüberzuretten. Sein gut organisiertes politisches Aktionskomitee nennt sich programmatisch Our Revolution, unsere Revolution, und setzt sich zum Ziel, die US-amerikanische Demokratie wiederzubeleben. Sanders ist überzeugt: «Wir demokratischen SozialistInnen müssen heute ein politisches System in Amerika reformieren, das nicht bloss extrem unfair ist, sondern in mancher Hinsicht korrupt.» Und so reist der 75-jährige Vollblutpolitiker persönlich durchs ganze Land, um linke PolitikerInnen zu unterstützen und das politische Bewusstsein und Wissen um rote und grüne Themen anzuheben. Er, der politische Spagate seit Jahrzehnten gewohnt ist, versucht damit auch, die zentristisch-neoliberale Demokratische Partei wo immer möglich nach links zu ziehen – oder zu stossen. Auf lokaler Ebene zeigen die guten Wahlresultate einer neuen Generation von demokratischen SozialistInnen bereits erste bescheidene Erfolge.

Der gleiche politische Scharfsinn und die berechnend-pragmatische Haltung, die Bernie Sanders – für die USA ungewöhnliche – politische Karriere als Sozialist (in der Schweiz wäre er wohl Sozialdemokrat) ermöglicht und jahrzehntelang gestützt haben, erschweren jetzt aber seine neue Rolle als «oberster Revolutionär». Vor allem Frauen und Angehörige ethnischer oder sexueller Minderheiten werfen dem alten weissen Mann vor, sich allzu sehr an den traditionellen marxistischen Kategorien von Haupt- und Nebenwiderspruch zu orientieren. Wenn es hart auf hart gehe, sei ihm der Klassenkampf wichtiger als der Kampf gegen Sexismus und Rassismus. Zu sehr schiele er nach dem ehemals linken weissen männlichen Arbeiter aus dem Industriegürtel; zu wenig baue er auf die weibliche, nicht-weisse, genderdiverse linke Basis der Zukunft.

Der alte Streit um den Stellenwert der sogenannten Identitätspolitik ist in der US-Linken nach der überraschenden Niederlage gegen den Rechtspopulisten Donald Trump und in Form von gegenseitigen Schuldzuweisungen erneut aufgeflammt. Unter anderem thematisiert die bekannte US-Feministin Nancy Fraser die «unheilige Allianz von Finanzkapitalismus und Emanzipation». Die Frage bleibt deshalb dringlich: Woraus besteht der Kitt einer mehrheitsfähigen sozialen Bewegung? Wie konstituiert sich heute eine inklusive mehrheitsfähige linke Politik – in den USA spricht man ungeniert von einem Linkspopulismus –, die anders als der Rechtspopulismus ohne Sündenböcke und bequeme Feindbilder mobilisieren will und muss? Worin besteht das Gemeinsame in der Diversität?

Eine andere Kultur ist möglich

Die US-Präsidentschaftswahlen vom letzten Herbst – und auch aktuellere Wahlen und Abstimmungen in Europa – sind nicht zuletzt die Zuspitzung oder Weiterentwicklung eines Konfliktes, den der kürzlich verstorbene US-Politologe Benjamin Barber schon 1992 in einem Essay in der Monatszeitschrift Atlantic Monthly als «Dschihad vs. McWorld» beschrieben hatte. Er sagte damals: «Wenn uns bloss die Wahl zwischen Mullahs und Malls (Einkaufszentren) bleibt, zwischen der Hegemonie des religiösen Absolutismus und der Hegemonie des Marktes, können sich Freiheit und der menschliche Geist nicht entwickeln.» Die von Barber angesprochene Polarität hat sich in den Terroranschlägen vom 11. September 2001 am dramatischsten entladen.

Doch seither sind vergleichbare Spannungen nicht bloss global, sondern auch innerhalb vieler Länder weiter angewachsen. Dies kann weltweit als Krise oder gar als Kollaps der neoliberalen Hegemonie gedeutet werden, auf die vielerorts, gerade auch in den USA, nicht mit einem alternativen Wirtschaftsmodell, sondern mit weiterer aggressiver Globalisierung («America First») bei gleichzeitiger kultureller Abschottung («America First») reagiert wird. In dieser «Dschihad»-Variante können durchaus auch christliche oder quasireligiöse und  ausgesprochen islamfeindliche Führungsfiguren die Rolle der Mullas übernehmen.

In den USA prägen ausserdem demografische Entwicklungen den kulturell definierten Konflikt und verschärfen ihn für einen Teil der Bevölkerung zur Identitätskrise. Beispielsweise stellen weisse ChristInnen nicht mehr die Mehrheit der Bevölkerung. Interessant ist, dass weniger als ein Drittel der demokratischen WählerInnen in den USA weisse ChristInnen sind, auf der republikanischen Seite sind es rund drei Viertel. Der Antagonismus zwischen einem fundamentalistischen Monokulturalismus, diesmal als Verteidigung des Abendlandes, und einem kosmopolitisch ausgerichteten, inklusiven Kulturverständnis überlagert also das hergebrachte politische Rechts-Links-Schema – und verhärtet es auch.

Das aktuelle Getöse dieses «Kulturkampfes» – etwa in der Politik der USA oder Frankreichs oder seit Jahren auch in der Schweiz – bedeutet keineswegs, dass die Linke ihre multikulturelle und emanzipatorische Ausrichtung ändern soll. Doch sie muss sich vielleicht bewusster sein, wo sie kulturell steht – und wo sie stehen will. Etwas salopp formuliert tendiert die junge urbane Linke dazu, Kultur als Möglichkeit der Selbstentfaltung und individuellen Bereicherung zu sehen. Man will Neues erleben, andere Kulturen kennenlernen, Bestehendes dekonstruieren. Demgegenüber betonen vorab ländlichere und ältere Bevölkerungsteile die Kultur als Heimat. Das sogenannte Volk trachtet eher nach Brauchtum und Tradition, inklusive Religion, und braucht die Versicherung von Zugehörigkeit und Stabilität.

So scharf müssen die Gegensätze aber nicht sein. Die traditionsreiche Kultur der ArbeiterInnenbewegung des frühen 20. Jahrhunderts oder die aktuelle spirituell orientierte Protestbewegung gegen die Erdölleitung im Indianerreservat Standing Rock in Nord- und Süddakota sind nur zwei Beispiele dafür, dass eine Kultur zugleich weltoffen und «heimatlich» sein kann. Dass Traditionen (inklusive Religion) und eine fortschrittliche linke Politik durchaus zusammengehen können – solange beide lebendig, entwicklungsfähig und inklusiv sind. Jenseits von «Dschihad vs. McWorld» gibt es für die (US-)Linke durchaus einen dritten Weg – oder eher sind es ganz viele noch wenig begangene, interessante, kulturell-politische Pfade, die die Basis der Linken vergrössern und erweitern könnten.

Der People‘s March for Climate, Jobs and Justice (Volksmarsch für die Umwelt, Arbeit und Gerechtigkeit) gegen hundert Tage Trump-Regierung war ein guter Anfang für das Zusammenbringen von Identitätspolitik und sozialer Frage. Ende April marschierten in Washington DC gewerkschaftlich organisierte Krankenschwestern neben Indigenen, Bauern neben Wissenschafterinnen, Pfadfinder neben Black-Lives-Aktivistinnen.

Das Leben im Zentrum

Die politisch und ästhetisch fantasievollen Plakate an den gegenwärtigen Demonstrationen zeigen: Menschen sind nicht nur Lohnarbeitende, sondern auch Betreuende (caregivers), BürgerInnen, Eltern, FreundInnen, Kulturschaffende, UmweltschützerInnen. Die Linke hat diese andern Seiten des Lebens lange etwas heruntergespielt, obwohl diese Lebensbereiche ebenso wie die Lohnarbeit den wirtschaftlichen Zwängen unterworfen sind. Wie der Bürgerrechtskämpfer Martin Luther King bereits vor fünfzig Jahren sagte: «Der Kapitalismus versteht nicht, dass das Leben sozial ist.»

Identität und Klassenkampf sind untrennbar miteinander verknüpft. Diese Begriffe und die damit verbundenen politischen Schwerpunkte gegeneinander auszuspielen, ergibt keinen Sinn. Der entlassene Industriearbeiter erleidet nicht nur einen finanziellen Verlust, sondern auch eine tiefe Identitätskrise. Der junge Afroamerikaner erlebt nicht bloss Polizeigewalt, sondern auch Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt. Wird einer Frau das Recht auf reproduktive Selbstbestimmung genommen, bedroht das ihre Identität und ihre soziale Stellung.

Um gegen Trump & Co. anzutreten, braucht es also nicht bloss die klassische linke Politik, sondern eine umfassende – und lokal gut verankerte – Bürgerrechtsbewegung, die Menschen unabhängig von Geschlecht, Hautfarbe, sexueller Orientierung, Religion oder Nationalität offen steht und für ihre Rechte kämpft. In den heute durch und durch militarisierten USA muss jede glaubhafte Linke auch eine Friedensbewegung sein, die politische Alternativen zum «ewigen Krieg» entwickelt.

Angesichts des Rechtspopulismus, der gegen innen wie aussen mit Angst und Ausschluss operiert, ist eine neue grosszügige Gegenkultur, die einlädt statt ausgrenzt, lebenswichtig. «Eine starke Demokratie bedeutet nicht, dass man Politik zum Lebensinhalt machen muss», argumentierte der Politologe und Bürgerrechtsaktivist Benjamin Barber, «doch es bedeutet, dass Politik selbstverständlich mit zum Leben gehört. Bürger, Bürgerin zu sein ist eine ebenso wichtige und natürliche Aufgabe wie die als Eltern oder Nachbarn.»

  • Lotta Suter,

    *1952, ist Mitbegründerin und langjährige Redaktorin der Wochenzeitung WOZ. Die Autorin und ehemalige Auslandskorrespondentin lebt seit kurzem wieder in den USA und gestaltet ihr publizistisches Umfeld nach eigenem Gutdünken.