Ich sitze vor einem Café und geniesse die paar Strahlen, die die Sonne an Wintertagen nur zögerlich herausrückt. Ein lautes Kratzgeräusch ertönt, und alle eifrig Schmatzenden oder Schwatzenden unterbrechen kurz ihre Tätigkeit, um dem Autofahrer zuzusehen, der sich in eine Stresssituation begeben hat: Er steht mit seinem Mini am Randstein, wo er in entgegengesetzter Fahrtrichtung wohl kurz parkieren wollte, bevor er merkte, dass ein Linienbus so nicht an ihm vorbeikommt. Der Busfahrer schaut ungeduldig. Panisch fährt der Autofahrer rückwärts. Dabei schrammt er mit den Felgen am Randstein entlang. Schadenfreude seitens der Kaffeetrinkenden, dann eine der Frauen, die mit mir am Tisch sitzen: «Oh nein, hoffentlich ist das keine Frau am Steuer!» Ich kann ihr von meinem Sitzplatz aus berichten, dass ich im Rückspiegel einen Mann am Steuer zu erkennen glaube. Nicht, dass es einen Unterschied machen würde. Macht es aber irgendwie doch. Wenn ich selbst am Steuer sitze und einen Fehler mache, geht mir auch immer sofort durch den Kopf, dass ich eine Gelegenheit für den dummen Spruch über Frauen am Steuer bin.
Ich habe erst in der Fahrschule begonnen, eine Frau am Steuer zu werden. Ich konnte allerdings schon längst Auto fahren, und das, ohne eine Frau am Steuer zu sein: Mein Opa hat mich als Kind immer schalten lassen, und irgendwann durfte ich mit seinem Pkw durch den Wald fahren oder einparken. Von ihm habe ich gelernt, den Ölstand zu messen, Reifen zu wechseln und in der Hofeinfahrt samstagmorgens das Auto zu putzen.
Mein Fahrlehrer war ein älterer Herr, der Angst vor Cholera hatte. «Mach das Fenster zu, ich krieg ja noch die Kollara!», rief er immer, wenn ich das Fenster öffnete, um zu lüften, und ich lüftete, weil er Pfeife rauchte, Kette. Das Lenkrad war klebrig von seinen Pfeifentabakhänden, und nach den Fahrstunden roch ich süsslich nach altem Pfeifenraucher. Wäre er zwanzig Jahre jünger, dann würde er sich an mich ranmachen, sagte er immer. Ich war sechzehn, er stand kurz vor der Rente und ich bezweifle, dass zwanzig Jahre einen grossen Unterschied gemacht hätten. Aber er hat sich ja auch trotzdem an mich rangemacht. Immer so, dass ich das Gefühl hatte, es sei nicht genug vorgefallen, um ihn zurechtzuweisen. Ich hatte auch das Gefühl, dass es ihn beleidigen würde, wenn ich seinen «Altmännercharme» zurückwies. Überhaupt habe ich erst sehr spät verstanden, in welchem Ausmass es seltsam war, dass ein circa Sechzigjähriger jede einzelne Fahrstunde dazu nutzt, seiner sechzehnjährigen Fahrschülerin schleimige Avancen zu machen.
Ich habe nicht nur Auto fahren, sondern auch boxen gelernt. Im Unisport in Amsterdam gab es einen Boxtrainer, der sich über alle Mädchen freute, die in seine Stunden kamen. Er schenkte ihnen besonders viel Aufmerksamkeit und erklärte ihnen viel geduldiger als den Jungs, was zu tun war und wie sie sich verbessern konnten. Er war ein ziemlich guter Trainer, ehemaliger Profi und um die fünfzig. Aber unangenehm war auch er. Touchy. Gerade so, dass man sich fragte, ob es wirklich unangemessen war oder einfach Einbildung. Ich habe irgendwann andere Frauen gefragt und bestätigt bekommen: Er umarmte uns definitiv ein bisschen zu oft, ein bisschen zu lang, die Witze waren definitiv anzüglich und das Zwinkern kein einfacher Kontrollverlust über die Augenlider.
Zwei Dinge finde ich interessant an beiden Geschichten: Dass ich als Frau, die sich zu beiden Zeitpunkten als emanzipiert und selbstbewusst wahrnahm, nicht genau wusste wie reagieren. Besonders letztere Situation, die ungefähr zehn Jahre nach der ersten stattfand, verwirrte mich. Meine erste Reaktion war nicht, ganz natürlich klar zu signalisieren, dass ich es unangebracht fand, angeflirtet zu werden, wenn ich einfach nur trainieren wollte. Und das, obwohl ich dachte, dass ich sehr gut Abfuhren erteilen kann, wenn nötig. Ich habe mir stattdessen Sorgen gemacht, nicht im Recht zu sein, zu übertreiben, den Boxtrainer zu beleidigen, nicht weiter von ihm lernen zu können. Wie absurd. Da erwische ich mich tatsächlich dabei, wie ich über einen dummen Witz «mädchenhaft» kichere, wie ich mich zwar aus der Umarmung winde, ihm dabei aber ja nicht auf die Füsse treten will. Erst nach einiger Reflexion und Planung war ich dazu imstande, meine Ablehnung zum Ausdruck zu bringen. Ein Training lang versuchte ich sogar, ihm jedes Mal auf die Nase zu hauen, wenn er mitten im Sparring mit mir kurze Pausen zum Zwinkern oder Flirten einlegte. Vergeblich, denn er war ein immer noch ziemlich flinker Boxer, aber wenigstens lachte ich nicht mit, sondern zwang ihn, einfach seinen Job zu machen. Wirklich aufgehört hat er aber nicht. Schlussendlich ging ich nicht mehr zum Training. Die Fahrstunden zehn Jahre zuvor habe ich bis zum Schluss besucht, es wäre auch um einiges teurer gewesen, das nicht durchzustehen. Und das war nicht Opportunismus. Das war eine fehlende Kompetenz, mit solchen Situationen umzugehen, auf das Bauchgefühl zu hören und Grenzen klar zu formulieren. Ich glaube, dass das Fehlen dieser Kompetenz auch mit meiner Sozialisierung als Frau zu tun hat.
Die andere Beobachtung ist die folgende: Die beiden kannten ihre Grenzen. So gut, dass sie wussten, um wie viele Millimeter sie diese überschreiten konnten, um damit ohne Konsequenzen durchzukommen.
Die Comédienne Kate Willet entlarvte kürzlich auf Facebook, den in der #MeToo-Debatte häufig aufkommenden Spruch, Männer dürften ja heutzutage nicht mal mehr flirten: Wer das behaupte, wisse nicht, was flirten sei oder bediene sich eines fadenscheinigen Arguments für sexuelle Belästigung. Gutes Flirten ist grundsätzlich emphatisch. Es geht darum, sexuelles Verlangen aufzubauen und ist oft subtil. Flirten ist ein zweiseitiger, spielerischer Austausch, der beiden Beteiligten erlaubt, sich gut zu fühlen. Sexuelle Belästigung ist das Gegenteil. Sie ist frei von Empathie, und es geht darum, einer Person den eigenen Willen aufzudrücken, ohne sich um ihre Lust zu scheren. Wer das verwechselt, vergleicht einen Pinsel mit einer Abrissbirne.
Meine Beispiele sind nicht die einschlägigsten dafür, dass Sexismus-Debatten notwendig sind. Dafür gibt es schon genügend Statistiken, unter anderem zu Gewalt an Frauen. Für mich sind es eher Beispiele dafür, wie alltäglich der Sexismus ist, den man nicht in Gewaltstatistiken nachschlagen kann. Wie häufig ich Belästigung ausgesetzt bin, wie ohnmächtig ich dem gegenüber bin, wie sehr ich Sexismus verinnerlicht habe und nicht selbstverständlich so handle und denke, wie ich es eigentlich möchte. Mich selbst als Auto fahrende Frau wahrzunehmen, wenn ich einen Fehler mache, gehört auch dazu. Puh. Es gibt noch viel zu tun.
*1992, war 2012 bayrische U20-Meisterin und deutschsprachige U20-Vizemeisterin im Poetry Slam. Sie schreibt schnelle, laute Texte, tritt damit seit fünf Jahren auf Bühnen
im gesamten deutschsprachigen Raum auf und schwenkt seit fünf Jahren einen Ausländerausweis in ihren Händen – sie wohnt seitdem in der Schweiz.